Das Lepus-Evangelium
Die folgende Geschichte wird seit vielen Generationen in der Familie Klopfer erzählt. Die Eltern erzählen sie den Kindern, die Kinder wiederum ihren Kindern ... und wenn sie betrunken sind, so ziemlich jedem, der gerade in der Nähe ist. Es ist Zeit, dass die Öffentlichkeit die reine Wahrheit erfährt über das, was damals in Judäa passierte …
Ein Schwall kalten Wassers riss ihn aus der tiefen Schwärze des Nichts.
Er blinzelte. Er lag auf hartem Fels, um ihn herum war es immer noch dunkel, aber auf eine andere Art, nicht diese überirdische Dunkelheit, in der er bis eben schwebte, eher so eine weltliche, die nicht ganz so dunkel war, aber eben doch halt dunkel genug, um als amtliche Dunkelheit zu gelten. Er war in einer Höhle. Verwundert schaute er sich den grob behauenen Stein über seinem Kopf an und fragte sich, was passiert war.
„Nun steh schon auf!“, tönte eine grummelnde Stimme in sein Ohr. Er blickte sich um und war kurz davor, wieder in Ohnmacht zu fallen. Schwach beleuchtet von einer Kerze stand ein großer Hase neben ihm, mit verschränkten Armen und verkniffenem Gesicht.
„Was … Wo bin ich?“
Der Hase schnaubte verächtlich. „In meinem Hasenbau. Und wenn du dir nicht schleunigst Fell und flauschige Ohren wachsen lässt, bist du hier eindeutig falsch!“
„Aha“, sagte der Mann nur. „Aber warum bin ich hier?“
„Eine wundervolle Frage! Die solltest du deinen Kumpels stellen. Ich hab mit den Nachbarn geredet, die haben gesagt, dass dein Fanclub dich hier vor ein paar Tagen abgeladen hat, als ich gerade auf Dienstreise war.“
Der Hase brummelte weiter. „Hör mal, du … Wie heißt du eigentlich?“
Der Mann räusperte sich. „Jeschua.“
„Okay. Jeschua. Waren ja nicht gerade kreativ, deine Eltern. Jedenfalls: Du kannst hier nicht bleiben. Das ist eine Einzimmerhöhle. Und außerdem würden die Leute anfangen zu reden.“ Der Hase hielt ihm einen Becher Wasser hin. „Hier, trink das und krieg mal deinen Kopf frei, aber dann musst du echt gehen.“
Jeschua merkte, wie trocken sich sein Mund anfühlte. Er leerte den Becher in einem Zug, starrte dann in die Luft und versuchte sich daran zu erinnern, was eigentlich passiert war. „Jehuda … Er hatte mich geküsst …“
Der Hase zog eine Augenbraue hoch. „War das der Alkohol oder fischst du am anderen Ufer?“
„Was?“
„Vergiss es.“
Jeschua versuchte weiter, seine Gedanken zusammenzukriegen: „Die Römer … Das Kreuz!“
Der Hase schüttelte den Kopf: „Vergiss mal dein Kreuz, deine Hände waren viel schlimmer dran.“
Erschrocken blickte Jeschua auf seine Hände, die unversehrt schienen. „Meine … Hände?“
„Ja, als wenn da irgendein Irrer Nägel durchgehauen hätte. Und bist du in eine Messerstecherei geraten? Du hattest eine mordsmäßige Wunde im Bauch.“ Der Hase beugte sich vor und flüsterte: „Sag mal, hattest du etwa Ärger mit der Mafia?“
Jeschua blinzelte verwirrt. „Die Römer …“
„Kommt fast hin“, winkte der Hase ab.
Jeschua tastete seinen Bauch ab. „Ich sehe gar keine Wunde.“
Grinsend klopfte sich der Hase selber auf die Schulter: „Ich hab halt prima Arbeit geleistet. War gar nicht so einfach, dich zusammenzuflicken. Aber es macht halt weniger Scherereien, wenn Hausbesetzer sich von selbst verpissen und man nicht ihre Leichen rausschaffen muss.“
Sein Patient wendete seinen Blick nun wieder dem großen, flauschigen Hasen zu: „Bist du … Gott?“
Der Hase grinste. „Willst du dich einschleimen?“ Er streckte Jeschua die pelzige Pfote entgegen: „Die meisten nennen mich einfach Osterhase.“
„Oster… hase?“, fragte Jeschua und schüttelte vorsichtig die dargebotene Pfote. Er hatte das Gefühl, etwas sehr Wichtiges nicht zu wissen.
„Ja, deswegen war ich nicht hier. Ich habe Eier versteckt, in Germanien“, erklärte der Hase, während er mit einem Wasserkrug Jeschuas Becher neu füllte.
„Wieso denn das?“, fragte Jeschua verblüfft.
Der Hase schaute ein wenig beleidigt. „Banause. Das ist Tradition! Die Kinder mögen das, die Eier dann zu suchen, und die Erwachsenen nehmen das als Ansporn, ein bisschen herumzuferkeln und fruchtbar zu sein!“
Jeschua war verwirrt. Immerhin war das ein konstanter Faktor seit seiner Erwachung, aber der Grund schien von Augenblick zu Augenblick zu wechseln. „Herumferkeln?“
Der Hase schnaubte irritiert. „Ja, herumferkeln. Vögeln. Bumsen. Pimpern. Ficken. Das werden deine Eltern doch auch gemacht haben, um dich zu kriegen.“
„Nein“, antwortete Jeschua eher automatisch.
Der Hase lachte auf. „Na aber sicher doch. Oder glaubst du, deiner Mutter wäre ein Geist ins Ohr gefahren und am Ende war sie schwanger? Jungejunge, du siehst aus wie 30. Du solltest eigentlich schon lange aufgeklärt sein.“
Jeschua schaute verlegen auf den Boden. Das Thema war ihm unangenehm, zumal es auch für seine Eltern ein wunder Punkt zu sein schien. Josef, sein Papa, bekam an Jeschuas Geburtstag immer schlechte Laune, und Maria, seine Mutti, zögerte immer und bekam einen roten Kopf, wenn Jeschua fragte, wo sein Vater ist, wenn der mal wieder bei irgendeinem Zimmermannsauftrag war und Jeschua ihm das Essen bringen sollte.
Der Hase schien zu merken, wie peinlich berührt sein unfreiwilliger Gast war, und klopfte ihm auf die Schulter. „Mach dir keinen Kopf, ein bisschen Unschuld ist gar nicht so schlecht für die Welt.“
Jeschua nickte unsicher und schaute sich in der Höhle um. Für jemanden, der die Macht hatte, die schlimmsten Verletzungen nahezu ohne Spuren zu heilen, war sie ziemlich ärmlich.
„Wenn du … in Germanien Eier verteilt hast, warum bist du jetzt hier, in dieser Höhle?“, fragte er – und fürchtete gleich, dass seine Frage zu frech wäre.
Der Hase zuckte bedauernd mit den Schultern: „Na ja, Ostern ist immer anstrengend, deswegen habe ich diese kleine Ferienwohnung hier gekauft, als die Immobilienpreise noch nicht so in die Höhe geschossen waren. Leider ist die Gegend nicht so gut, in meiner Abwesenheit steigen hier dauernd Leute ein und tun so, als wäre das ihre Höhle. Da sollten die Römer echt mal für Ordnung sorgen!“
Jeschua schreckte auf. „Die Römer! Wenn die merken, dass ich noch lebe …“
Der Blick des Osterhasen wanderte nachdenklich über seinen Gast. „Du scheinst ein netter Kerl zu sein. Ich sag dir was: Mein Urlaub hier geht noch 40 Tage. Du bringst in der Zeit deinen Kram hier in Ordnung und liest vor allem mal deinen Kumpels die Leviten, dass die nicht einfach ihre Leichen bei den Nachbarn entsorgen dürfen. Und dann nehme ich dich mit nach Germanien. Kannst du irgendwas?“
Nur kurz zögerte Jeschua, bevor er antwortete. „Ich hab Zimmermann gelernt.“
„Das passt ja wie der Arsch auf den Eimer“, freute sich der Hase und klopfte begeistert mit der Hinterpfote auf den felsigen Boden der Höhle. „Wir haben einen Bauboom daheim, da findest du sicher schnell Arbeit. Und vielleicht findest du auch eine Frau, mit der du eine Familie gründen und lernen kannst, was Herumferkeln ist.“
Jeschua lächelte. „Und wie ist es sonst dort, wo du lebst?“
Der Hase legte kameradschaftlich einen Arm um seine Schulter. „Ich sag dir: Es ist der Himmel. Aber das wirst du schon sehen, wenn wir dahin fahren…“
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*schnaubt dezent amüsiert*