Der Brexit-Wahlkampf war sehr emotional geführt worden, gerade von der Leave-Kampagne, mit relativ wenig Hingabe an die Wahrheit. Die Remain-Kampagne dagegen konnte nicht viel anderes bieten als: "Wenn wir rausgehen, wird es ganz schlimm", anstatt irgendwie drauf hinzuweisen, wie super die EU für die Briten war. Das ist natürlich schon ein dicker Hemmschuh.
Wenn man sich anschaut, dass Rupert Murdoch, der mit seinen Boulevardzeitungen sehr offen Brexit-Werbung gemacht hat, mal sagte, er wäre deswegen gegen die EU, weil man in 10 Downing Street macht, was er sagt, aber sich in Brüssel für ihn nicht interessiert, wäre sicherlich ein bisschen Skepsis von Seiten der einfachen Arbeiter, die größtenteils für den Brexit waren, angebracht, denn Murdoch ist sicherlich kein Anwalt der Arbeiterklasse. Viele fühlten sich von der Globalisierung abgehängt und schoben das auch zum großen Teil auf die billigen Arbeitskräfte aus Polen, die aufgrund der EU-Freizügigkeit ins Land kamen. (Das war allerdings auch im Interesse vieler Unternehmer, die jetzt so für den Brexit geworben haben, weil die neuen Beschäftigten dann nicht wählen konnten, da sie ja die britische Staatsbürgerschaft nicht haben, und somit auch nicht für Parteien stimmen konnten, die sich für mehr Arbeitnehmerrechte einsetzen.) Die Flüchtlingskrise als solche wird ein bisschen zum Ergebnis beigetragen haben, gerade durch die vertuschten Vergewaltigungsfälle in Rotherham und anderen britischen Städten, außerdem als Befürchtung, dass man von der EU welche von den Flüchtlingen aufgedrückt kriegt und außerdem viele Kosten tragen müsste. Der große Fokus bei dem Anti-Immigrations-Wahlkampf lag aber auf der Freizügigkeit für EU-Bürger, das ist da noch größeres Thema, auch weil GB ja nicht zum Schengen-Raum gehört und somit schon mehr Kontrolle über seine Grenzen hat als andere EU-Länder und somit Nicht-EU-Bürger leichter ausfiltern kann.
Der Brexit selbst ist wirtschaftlich und logisch total beknackt. Großbritannien profitiert davon, dass es Zugang zum EU-Binnenmarkt hat und auch bei den Entscheidungen mitreden kann. Die Finanzwirtschaft in der City of London, die überproportional viel zur britischen Wirtschaft beiträgt, mag diesen Standort zum großen Teil, weil sie von da aus Zugriff auf den europäischen Finanzmarkt hat und GB in Europa die gemeinsame Gesetzgebung über die Finanzmärkte beeinflussen kann (und da die Banken so extrem wichtig für GB sind, hat eben auch die britische Regierung einen großen Anreiz, im Sinne der Banken die Gesetze und Richtlinien zu beeinflussen). Die werden zum großen Teil nun abwandern nach Paris und Frankfurt/Main.
Die Wissenschaft in Großbritannien wird auch stark leiden, denn sie profitierte sowohl von EU-Geldern als auch von der einfachen Möglichkeit der Zusammenarbeit mit anderen europäischen Forschern. Britische Forscher können bislang leicht in europäischen Forschungsinstituten arbeiten, europäische Forscher leicht in britischen. Das geht nun in die Binsen, und die Bedeutung des Königreichs in der aktuellen Wissenschaft wird schwinden.
Dann sind natürlich Investitionen stark gefährdet. Wer eine Fabrik bauen und mit der Produktion den gesamten europäischen Markt abdecken will, wird vornehmlich da produzieren, wo er ohne viel Papierkram Zeug in die europäischen Länder schaffen kann. Das wird er nun eher nicht in GB machen. Wie das mit Kooperationen wird (z.B. bei Airbus, das in Großbritannien die Flügel für ihre Flugzeuge produzieren lässt), wird sich auch erst zeigen müssen, aber man kann darauf wetten, dass es in Zukunft weniger neue Kooperationen dieser Art mit dem Königreich geben wird. Da sind die britischen Arbeiter auch gefickt. Großbritannien ist über die EU an 33 Freihandelsabkommen mit über 80 Ländern beteiligt. Auch da wird es alles neu und einzeln verhandeln müssen, um britischen Unternehmen den Freihandel mit diesen Ländern zu ermöglichen.
Auch z.B. für Pharma-Unternehmen wird es komplizierter: Momentan kann ein Medikament eine EU-weite Zulassung kriegen, wenn es über eine europäische Behörde (die noch in London sitzt) zertifiziert wird. In Zukunft wird es wohl für GB eine gesonderte Zulassung benötigen.
Ein weiterer Aspekt sind die Dienstleistungen. Derzeit ist es kaum ein Problem, in Deutschland eine Dienstleistung von einem britischen Anbieter in Anspruch zu nehmen (abgesehen von ein bissel Umsatzsteuermurks). Das wird in Zukunft auch anders sein (und in reinen Freihandelsabkommen wird dieser Bereich auch meistens kaum abgedeckt). Britische Unternehmen verlieren mit dem EU-Austritt also den leichten Zugang zu einem riesigen Kundenkreis. (Mit Dienstleistungen sind auch Downloads von E-Books und Software gemeint.)
Natürlich kann man alles mit Einzelverträgen wieder hinbiegen. Aber - was die Leave-Kampagne gerne unter den Tisch fallen ließ - wer wie z.B. Norwegen Zugang zum europäischen Binnenmarkt haben will, muss sich an fast alle EU-Regeln halten (was die Briten ja gerade mit dem Votum abgelehnt haben) und auch die EU-Freizügigkeit für Arbeitnehmer akzeptieren (wogegen die Leave-Kampagne ja gerade protestierte). Und man muss in den EU-Topf einzahlen (was die Briten ja offenbar nicht wollen). Wenn man den Briten-Rabatt und was die Briten von der EU an Geldern zurückkriegen einrechnet, zahlt jeder Norweger pro Kopf wohl ungefähr so viel in die EU ein wie jeder Brite, vll. sogar ein bisschen mehr. Und die EU hat kaum einen Anreiz, Großbritannien in den Verhandlungen besonders entgegenzukommen, schon weil sie den verbleibenden EU-Mitgliedern kein Signal geben wollen, dass man die Vorteile der EU abschöpfen kann, ohne was dafür leisten zu müssen. Kurz gesagt: Das Königreich müsste all die Kröten schlucken, wegen der die Briten aussteigen wollen, aber hätte kein Mitspracherecht mehr.
Außenpolitisch ist das Königreich auch gevögelt. Die USA haben klar gesagt, dass die Briten für sie deswegen so wertvolle Partner waren, weil sie über die Einfluss auf die EU nehmen konnten. Das heißt, sie können sich nicht drauf verlassen, dass die Amis weiterhin so gerne mit ihnen kuscheln, anstatt sich lieber an Deutschland und Frankreich ranzuschmeißen. Für Deutschland ist der Austritt GBs wirtschaftlich natürlich mies, weil wir z.B. viel an die Briten verkaufen (gerade Autos). Es heißt aber auch: Deutschland wird nun noch bestimmender in der EU und muss eine Führungsrolle einnehmen, die es eigentlich gar nicht will (nicht meine Einstellung, aber wenn man sich die Regierung anguckt, wird es ziemlich klar).
Gleichzeitig verschiebt sich das wirtschaftliche Gleichgewicht in der EU in Richtung der Länder, die wirtschaftlich insgesamt schwächer sind. Das könnte für Deutschland noch sehr ungemütlich werden, wenn diese Länder mit ihrem nun besseren Kräfteverhältnis neue Verteilungskämpfe anstrengen. Man muss außerdem damit rechnen, dass durch den Brexit noch weitere Länder mit dem Austritt liebäugeln, gerade die Niederlande, was besonders beschissen wäre, weil da der größte Seehafen Europas ist. Dänemark könnte auch wegfallen. Im Endeffekt muss nun dafür gesorgt werden, dass die EU nicht noch weitere starke Mitglieder verliert, auch durch eine harte Linie gegenüber den Briten.
Innenpolitisch wird das Vereinigte Königreich wohl nicht mehr lange vereint bleiben. Die Schotten werden wieder über die Unabhängigkeit abstimmen, und diesmal werden sie rausgehen.
Natürlich muss die EU reformiert werden. Es gibt wohl niemanden, der behauptet, die EU wäre nicht zu bürokratisch und zu undemokratisch. Aber der beste Weg wäre dann wohl, sie von innen zu reformieren, anstatt sich zu verpissen und damit seine eigene Wirtschaft und Wissenschaft zu verkrüppeln.