Solange der Erdölpreis hoch war, ging es den Venezolanern ja gar nicht so schlecht in ihrem Sozialismus. Der hatte immerhin dafür gesorgt, dass die Einnahmen aus den natürlichen Ressourcen des Landes einer breiteren Gesellschaftsschicht zugute kommen, etwa durch günstige Energiekosten, kostenlose Krankenversorgung etc. Die Armut ist ja in der Zeit auch stark gesunken, weil durch die sozialistische Verteilung alle davon profitierten, wenn die Öl-Einnahmen sprudelten.
Natürlich hat die staatliche Einmischung in die Wirtschaft ausländische Investitionen und inländische Initiative stark gelähmt, das ist gar nicht zu bestreiten. Allerdings wäre die Krise jetzt auch nicht zu verhindern gewesen, eben durch diese Abhängigkeit vom Erdöl und seinem Preis auf dem Weltmarkt, die dafür sorgte, dass der Rest der Wirtschaft relativ unbedeutend ist. Eine beschlagnahmte Spielzeugfabrik oder eine enteignete Autofabrik ist für die betroffenen Unternehmen sehr mies, aber insgesamt für die venezolanische Wirtschaftskraft eher eine Randnotiz.
Venezuela hat seit Ewigkeiten dieses Abhängigkeitsproblem. Die restlichen Wirtschaftszweige sind eher schwach ausgeprägt, gerade die Landwirtschaft, die eigentlich gefördert werden sollte, ist sehr schwach, alles hängt am Öl. Schon in den frühen 80er Jahren hatte Venezuela das gleiche Problem wie jetzt: Der Erdölpreis sank, die Einnahmen brachen ein, die Korruption stieg extrem an, die Kriminalität stieg, die Leute litten wirtschaftliche Not, es gab Unruhen und Umsturzversuche. Und das war unter einer zunächst christdemokratischen und dann sozialdemokratischen Regierung.
In einer freien Marktwirtschaft wäre die jetzige Situation wohl ebenfalls eingetreten, und zwar aus einem simplen Grund: In einer freien Marktwirtschaft kumulieren sich Investitionen dort, wo die Investoren glauben, dass sich diese Investitionen am schnellsten amortisieren würden. Das wäre also auch fast alles in die Ölwirtschaft geflossen, weil niemand geahnt hatte, dass der Ölpreis so extrem abschmieren würde, und hätte kaum dazu geführt, dass sich die venezolanische Wirtschaft diversifiziert. Ein Aufbau der Landwirtschaft z.B. wäre eine sehr langfristige Investition mit nicht allzu hohen Gewinnspannen, zudem gibt's da ja auch geografische Hindernisse.
Um langfristig lebensfähig zu sein, muss ein Land Handel mit der Welt treiben können, um Geld ins Land holen zu können. Mehr von anderen Ländern zu kaufen, als man selbst ins Ausland liefert, verringert auf Dauer das Kapital im Land. (Diese Diskussion hatten wir ja kürzlich mit dem Einfluss von Deutschlands Exportpolitik auf die Weltwirtschaft.) Eine Colafabrik in Caracas oder eine lokale Playboy-Ausgabe bringen Arbeitsplätze im Land, aber sie tun nicht viel dafür, Devisen reinzuholen. Daher tappen gerade rohstoffreiche Länder oft in die Falle und konzentrieren sich so sehr auf ihre Rohstoffe, werden aber umso brutaler gefickt, wenn der Rohstoffpreis abstürzt. Das ist auch für viele afrikanische Länder ein Problem, welches zu ihrer Armut beiträgt, ganz unabhängig vom Sozialismus. Auf der anderen Seite gibt's natürlich nicht so viel Wirtschaftszweige, wo man als Newcomer noch eine Chance hätte auf dem Weltmarkt. Maschinen, Autos, Chemie, Pharma, Textil - all diese Sachen sind von den großen Industrieländern oder den asiatischen Schwellenländern abgedeckt, und auch in der IT-Wirtschaft sind andere schon Lichtjahre weiter vorne, da stellt sich automatisch die Frage, wohin sich die venezolanische Wirtschaft orientieren sollte, wenn sie vom Erdöl weg und dabei aber trotzdem anderen Ländern was verkaufen will.
Das ist ein gigantisches Problem, und ich sehe ehrlich gesagt nicht, wie eine andere Regierung das hätte lösen können. Man kann den venezolanischen Sozialismus sicher ausgiebig kritisieren und viele Fehler ankreiden, aber den Großteil der jetzigen Situation hat der Ölpreisverfall gebracht und nicht die sozialistische Politik.