Die alltägliche Gewalt gegen Frauen?
Nach den schrecklichen Ereignissen der Silvesternacht bemühten sich nicht wenige Menschen, die massenhaften Angriffe auf sexuelle Selbstbestimmung und Eigentum zu relativieren: Tatsächlich sei das ja Alltag in Deutschland und der einzige Grund, weswegen man sich jetzt darüber aufrege, wäre ja nur, dass diesmal Ausländer Tatverdächtige wären und keine Deutschen. Mithin wäre das Entsetzen also gar kein Zeichen der Sorge um die Frauen, sondern purer Rassismus. Dafür zog man sich wilde Dunkelziffern über angebliche sexuelle Gewalt beim Oktoberfest aus dem Hintern. Dummerweise fragten sich jetzt andere Leute, warum man dann so wenig über Polizistinnen hört, die auf dem Oktoberfest plötzlich eine unerwünschte Hand im Schlüpfer hatten.
Wer jetzt auf die Website vom Focus (aka „BILD für Konservative mit Abitur“) oder der taz (aka „BILD für Linke“) guckt, kriegt eine neue Behauptung präsentiert: Jede dritte Frau in Europa würde sexuelle oder physische Gewalt erleben, bei der taz war es schon jede zweite. Donnerwetter. Offenbar herrschen bei uns Zustände wie in Zentralafrika, und wir haben es alle nicht gemerkt.
Während die taz die Behauptung einfach so in den Raum stellt, gibt der Focus eine Quelle an: eine Umfrage der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte. Nachdem sich aber schon die berüchtigte „Jede fünfte Studentin an einer US-Uni wird vergewaltigt“-Studie als absoluter Humbug herausstellte, bin ich eher skeptisch und habe das gemacht, was die Journalisten hätten tun sollen: Ich hab mir die Umfrage angeguckt. Und sie ist hanebüchener Bullshit.
Allgemeines
Das fängt schon bei der Antwortrate an: In Deutschland wurden zum Beispiel 3559 Anfragen rausgeschickt, um bei dem Interview mitzumachen. Durchgeführt wurde das Interview dann aber nur 1534 Mal. Man kann davon ausgehen, dass Frauen, die Opfer von Gewalt wurden, sich eher für so ein Interview bereit erklären als Frauen, die sich sagen, dass sie damit nichts zu tun haben. Allein deswegen ist es schon Blödsinn, die Resultate dann einfach auf die Bevölkerung hochzurechnen.
Weitere Alarmglocken müssten schon klingeln, wenn man sich anschaut, wo die meisten Frauen angeblich Opfer von physischer/sexueller Gewalt oder sexueller Belästigung wurden: in Dänemark, Schweden, Finnland und Niederlande. Ausgerechnet die Länder, die nicht nur als besonders gleichberechtigt gelten in der EU, sondern auch noch Länder, die laut der UN allesamt in den Top 10 der glücklichsten Staaten sind.
Physische und sexuelle Gewalt
Einer der größten Knackpunkte ist aber die Auswahl der Fragen und die Definition, was alles als Gewalt oder sexuelle Belästigung gilt. Schon beim Aufdröseln ergibt sich die Frage, ob da nicht extra darauf hingearbeitet wurde, möglichst skandalöse Zahlen zu nennen. Wieso sonst werden physische Gewalt und sexuelle Gewalt meistens nur zusammen genannt? Vor dem geistigen Auge taucht fast unweigerlich die Vorstellung auf, dass jede dritte Frau brutal vergewaltigt oder sexuell missbraucht wurde, wenn gesagt wird, dass 33 Prozent der Frauen angaben, sie wurden seit dem 15. Lebensjahr mindestens einmal Opfer physischer oder sexueller Gewalt.
Für sich genommen ergibt sich ein anderes Bild: Sexuelle Gewalt (im Sinne der Umfrage) wurde lediglich von 11 Prozent der Frauen seit dem 15. Lebensjahr erlebt, 5 Prozent wurden vergewaltigt. Immer noch zu viel, aber schon deutlich weniger als ein Drittel (und immer unter dem Vorbehalt, dass wirkliche Opfer wahrscheinlicher bei dieser Umfrage mitmachen als Frauen, die das nicht erlebt haben). Eine einzelne Aufstellung, wie viele Frauen sexuelle Gewalt in den letzten 12 Monaten erlebt haben (was für mich ein wichtiger Indikator wäre, um die aktuelle Lage einzuschätzen), gibt es gar nicht, lediglich eine Hochrechnung, die darauf schließen lässt, dass etwa 2 Prozent aller befragten Frauen etwas in der Art angaben. Ansonsten wird das wieder mit der physischen Gewalt in einen Topf geworfen, was zu einer Rate von 8 Prozent führt. Man kann sich natürlich die Frage stellen, inwieweit die Studie überhaupt in der Lage ist, die derzeitige Situation einzuschätzen, wenn nur nach Erfahrungen in der Lebenszeit und in den letzten 12 Monaten gefragt wird. Wenn einem eine 75-jährige Frau erzählt, dass sie mal eine Backpfeife gekriegt hat, als Ludwig Erhard Kanzler war, wird einem das eher weniger hilfreich sein, aktuelle Gewalt gegen Frauen einzuschätzen.
Was ist denn aber nun physische Gewalt? Die Frauen wurden gefragt, ob sie seit dem 15. Lebensjahr
- gestoßen oder geschubst wurden
- geohrfeigt wurden
- mit einem festen Objekt beworfen wurden
- gepackt oder an den Haaren gezogen wurden
- mit der Faust oder einem festen Gegenstand geschlagen oder getreten wurden
- verbrannt wurden
- gewürgt wurden oder einen Erstickungsversuch erlebt haben
- geschnitten, gestochen oder beschossen wurden
- mit dem Kopf irgendwo gegen geschlagen wurden
Das ist eine ziemlich große Bandbreite. Ich gehe zugunsten der Umfrage mal davon aus, dass sexuelle Spielereien dabei nicht genannt wurden. Aber dennoch sehe ich riesige Probleme darin.
- Wir wissen, dass häusliche Gewalt oft nicht einseitig ist und viele Männer ebenfalls von ihren Frauen körperliche Gewalt erleben. Da nicht gefragt wurde, ob die Frau vielleicht ebenfalls Gewalt angewendet oder gar angefangen hat, bleibt dieser Punkt im Dunkeln, obwohl er wichtig für die Bewertung wäre.
- Ich sehe einen riesigen Unterschied darin, ob man während eines Streitgesprächs am Arm gepackt wird oder ob auf einen geschossen wird. Und wer ist seit seinem 15. Lebensjahr mal nicht von irgendeinem Idioten geschubst worden, zum Beispiel beim Einsteigen in den Bus? Ist das tatsächlich so geschlechtsspezifisch? Und gibt’s nicht auch innerhalb der einzelnen Fragen eine gewisse Bandbreite? Ist es nicht ein Unterschied, ob man während eines Streits beiseite gestoßen wird, weil man im Weg steht, während der andere wütend abrauschen will, oder ob man mit voller Wucht in die Schrankwand gestoßen wird? Nicht, dass ich gewisse Gewalt gutheißen möchte, aber man sollte schon die Frage stellen, ob man den Opfern schwerer Gewalt einen Gefallen tut, wenn man sie mit denen in einen Topf wirft, die beim Winterschlussverkauf ins Unterwäscheregal gedrängt wurden.
- Wenn die körperliche Gewalt nicht von einem jetzigen oder Ex-Partner ausgeübt wurde, so ging sie in mehr als einem Viertel der Fälle von einer anderen Frau aus. Auch das wirft die Frage auf, ob man Gewalt gegen Frauen immer auch als Ausdruck einer Haltung gegenüber Frauen als solches werten kann.
Ich kenne sowohl Frauen als auch Männer, die (einseitig) häusliche Gewalt durch den Partner erlitten haben. Ich glaube nicht, dass es in deren Sinne ist, die Gewalt, die sie erlitten haben, zu verharmlosen, indem man sie mit gegenseitiger Prügelei oder einem leichten Gerangel unter Bekannten gleichsetzt.
Kommen wir nun zur sexuellen Gewalt. Gefragt wurde, ob die Frauen seit dem 15. Lebensjahr
- zum Geschlechtsverkehr gezwungen wurden, indem man sie festhielt oder bedrohte
- einen Versuch erlebt haben, sie zum Geschlechtsverkehr zu zwingen, indem man sie festhielt oder bedrohte
- dazu gebracht wurden, bei einer sexuellen Aktivität mitzumachen, obwohl sie nicht wollten
- eingewilligt haben, bei einer sexuellen Aktivität mitzumachen, weil sie Angst davor hatten, was sonst passieren könnte
Alles sind Sachen, die nicht passieren sollten. Aber auch hier sehe ich gewisse Probleme. Nehmen wir die dritte Frage. Da könnte eine Frau auch positiv antworten, wenn sie sich dazu überreden ließ, ihrem Mann einen zu blasen, damit er endlich Ruhe gibt und nicht den ganzen Abend quengelt. Ist das unreif? Klar. Sollte das in einer Beziehung passieren? Nö. Ist es aber sexuelle Gewalt? Nein, ist es nicht, und die Frau sollte man nicht mit einer gleichsetzen, die bei einer Orgie mitgemacht hat, weil ihre Freunde sie dazu drängten, um cool zu sein und weiter zur Clique zu gehören.
Gleichermaßen hätte man bei der vierten Frage wohl spezifizieren sollen, vor welchen Konsequenzen man Angst hat. Beim Sex mitzumachen, weil man Angst hatte, sonst geschlagen zu werden, ist eine ganz andere Liga als beim Sex mitzumachen, weil man Angst hatte, dass der Freund einen sonst verlässt. Die zweite Sache ist Teenager-Pipifax, keine sexuelle Gewalt.
Interessanterweise wurde auch gefragt, aus welchen Gründen Frauen beim schlimmsten Vorfall (ob nun sexueller oder physischer Gewalt) nicht zur Polizei gegangen sind. Bei physischer Gewalt waren die beiden meistgewählten Begründungen, dass sie sich entweder selbst (oder mithilfe von Freunden/Familienmitgliedern) darum gekümmert hätten oder es ihnen zu popelig erschien. Bei sexueller Gewalt war der erste Grund immer noch der am häufigsten genannte.