Nostalgie
Ich werd alt. Diese Erkenntnis hat nur indirekt mit meinem gerade zurückliegenden Geburtstag zu tun. Es ist vielmehr die Welt um mich herum, die mir unverblümt zeigt, dass ich langsam zu diesen Typen gehöre, die sich ständig denken, dass früher einiges besser war.
Ich bin zu einer Zeit aufgewachsen, als es noch D-Züge gab. Heutzutage gibt es bei der Bahn keine D-Züge mehr. Stattdessen kann ich im InterCity, InterCityExpress oder mit einer Nightline fahren, meine Tickets per Surf & Rail buchen und am besten noch ein CityTicket dazu bestellen, und wenn ich kein Englisch-Abitur hätte, bräuchte ich ein Wörterbuch, um mich auf der Internetseite des Konzerns zurechtzufinden. (Einen Steuerberater brauch ich sowieso, um mich durch die abstrusen Fahrpreisrabatte zu wühlen, damit ich für eine Fahrt nach Köln keine Niere verkaufen muss.) Eigentlich wundert es da nicht, dass die Deutsche Bahn AG auf ihren Plakaten nicht etwa "Deutsche Bahn" neben ihr Logo schreibt, sondern "Die Bahn". Deutsch spricht man bei der Bahn kaum noch.
Bei Telekommunikationsunternehmen auch nicht. Kennt jemand, der nach 1989 geboren wurde, noch den Begriff "Ortsgespräch" aus erster Hand? Also aus dem Munde der Telefonfirmen? Dort werden einem CityCall-Tarife um die Ohren gehauen, die man am besten per Call-by-Call mit Preselection ausnutzt, wenn man in seiner Homezone ist. Call-by-Call. Kann mir jemand mal ne schnittige, kurze Übersetzung anbieten, die auch erklärt, was das ist!? Call-by-Call. Engländer und Amerikaner kennen das Wort überhaupt nicht. Und das war früher besser: Die Firmen sprachen deutsch mit uns. Und nicht nur deutsche Firmen: Ausländische Firmen warben in unserer Landessprache um uns, weil wir damals noch den Mut hatten, etwas nicht zu kaufen, wenn wir den Packungsaufdruck nicht verstanden und dies auch offen zugaben. Heute benutzt die Wirtschaft nur zu gern ein künstliches Deppenenglisch, um jugendlich, modern und international zu wirken. Und wir haben mangels Alternativen nicht einmal die Möglichkeit, den Firmen über unser Kaufverhalten mitzuteilen, dass wir ihr Verhalten peinlich finden.
Anderes Beispiel für den Wandel der Zeit: Computer. Als ich den ersten IBM-PC meines Lebens in die Finger bekam, hatte er gerade 2 MByte RAM und eine 40 MByte-Festplatte. Er konnte lediglich 256 Farben in einer Auflösung von 320x200 Pixeln anzeigen (oder 16 Farben bei 640x480). Und doch hatten wir Spaß damit. Wir haben Adventures gespielt wie Monkey Island oder Indiana Jones. Was gibt es heute? Nahezu jedes neue Spiel ist entweder eine Art 3D-Brettspiel oder ein 3D-Jump'n'Run (wahlweise mit Ich-Perspektive oder ohne) und versucht uns mit immer ausgefeilteren Effekten einzulullen. Leuchtende Nebel, immer höhere Polygonzahlen und größere Explosionen haben die Notwendigkeit von guten Geschichten und kreativen Spielkonzepten fast vollständig abgeschafft. Ich hab den ersten Teil von Monkey Island wahrscheinlich über 25 Mal durchgespielt. Ich kann die Dialoge mitsprechen. Und trotzdem hab ich mehr Spaß bei diesem verpixelten Spiel als mit irgendeinem Tomb Raider, Quake oder dem unsäglichen Larry - Magna cum Laude. Früher konnte man allein oder in einem kleinen Team noch innovative Spiele programmieren, damit zu einem Vertrieb gehen und hatte eine ehrliche Chance, einen Volltreffer zu landen. Heutzutage sind an einem Spiel mindestens 50 Leute beschäftigt, die Budgets sind im 7stelligen Bereich, und man hat den Eindruck, dass die meisten Mitarbeiter 3D-Programmierer sind, während Story, Witze und frische Ideen vom unglücklichen Praktikanten kommen, der sonst nur Kaffee kochen darf. Nachfolger erfolgreicher Spiele bieten heute mehr als früher nur Aktualisierungen in der Technik, der Rest wird lediglich aufgewärmt, anstatt die Charaktere in ein neues Umfeld zu setzen und eine frische Geschichte zu erzählen. Klar gab's früher auch jede Menge Softwareschrott, aber der wurde immerhin billig produziert und schickte die Herstellerfirmen bei einem Flop nicht gleich in die Insolvenz oder die Abhängigkeit von einem großen Konzern, die dafür sorgte, dass nur noch Fortsetzungen produziert werden.
Ich gebe zu: Ich war nie ein großer Freund von Rap und HipHop. Ich hab keine einzige CD von den Fanta4 oder Fettes Brot, und ich werde wahrscheinlich auch keine kaufen. Respektiert hab ich sie dennoch. Und dieser Respekt ist in den letzten Jahren immens angewachsen, was allerdings weniger auf den Leistungen der genannten Interpreten basiert, sondern noch mehr auf der neuen Generation von asozialen Rappern, die aus einem mir unerfindlichen Grund gerade sehr viel Erfolg haben. Wie infantil muss man sein, um jemanden wie Sido oder Bushido toll zu finden? Kommt einem das nicht irgendwie blöd vor, einem Typen Geld in den Rachen zu stopfen, der davon prahlt, dass angeblich die Polizei ganze SEKs auf ihn ansetzen würde, obwohl man genau weiß, dass der Typ nur eine angeberische Pussy ist? Und warum ist jemand stolz auf seinen asozialen Wohnblock und wie er sein hartes Leben führt, traut sich aber nicht mal, seine hässliche Chromfratze ins Altmetall zu schmeißen? Seht es ein: Es ist lächerlich, sich hier so ein Gangsterimage wie in den USA aufzubauen. In den USA schießen sich die Leute in den schwarzen Ghettos über den Haufen. In den Staaten haben die Sklaverei und die Rassentrennung die Grundsteine für die starken Konflikte der Schwarzen Szene mit dem Rest der Gesellschaft und mit sich selbst gelegt.
Im Vergleich dazu seid ihr täglich gepudert, gewindelt und auf den Arsch geküsst worden, und alle eure Versuche, euch als gebeutelte Unterschicht darzustellen, die sich gegen die Gesellschaft wehrt, indem sie eigenen brutalen Regeln gehorcht, kotzen mich an. Gebt eure unverdient gescheffelte Kohle denen, die wirklich böse vom Leben gevögelt wurden, aber lasst mich mit eurer Kindergartenmucke zufrieden. Und zieht euch nicht mehr im Dunkeln an. Und zu Sido: sich "Arschfickmann" zu nennen, ist außerhalb von uboot.com einfach nur peinlich. Und verdammt noch eins: wie könnt ihr schwulenfeindliche Texte machen und eure Kumpels dann "Homies" nennen?
Nun gibt's kaum Aggro-Berlin-Fans, die älter als 16 sind, und ich weiß, dass man mit Kindern nachsichtig sein soll. Aber mal ehrlich: Jede Dummheit muss man ja nicht tolerieren, oder?
Ein weiteres Indiz für eine in den letzten 10 Jahren leicht angewachsene Reife ist mein Fernsehverhalten. Mit 14 hätte ich beispielsweise so ein Tittencasting wie "Germany's Next Topmodel" wahrscheinlich sabbernd 40 Zentimeter vor dem Bildschirm verfolgt. Heutzutage registriere ich beim Umschalten so nebenbei, wie die Hoppelschnitten im Tanga vor einigen Bergbaukumpels umherstolzieren, und schalte ungerührt weiter. Erotik war im Fernsehen früher für mich im Wesentlichen ein Mittel, um mich anzuheizen. Wenn ich heute anschaue, was so als Erotik im Fernsehen gebracht wird (geschnittene Pornos mit Billigsynchro, Amateure, die sich im Wohnzimmer nackig machen usw.), dann ist mein erster Gedanke nicht mehr: "Boah, Fleisch!", sondern "Mal sehen, ob es unfreiwillig komisch ist". Und das ist nicht etwa so, weil ich im realen Leben so viel sexuelle Betätigung hätte, dass mich televisionärer Sex generell langweilen würde. (Schön wär's.)
Zum Schluss möchte ich noch mal auf sprachliche Gewohnheiten zurückkommen, die mir zeigen, dass ich definitiv einer anderen Generation angehöre. Wenn ich etwas mag, dann ist es toll, super, klasse oder geil. Es ist auf keinen Fall "fett" oder "krass". Wenn etwas fett ist, ist es Wasser abweisend, besitzt eine große Masse und/oder beleidigt meine Augen. Wenn etwas krass ist, ist es sehr ungewöhnlich und verstößt gegen gängige Konventionen. Beides ist nicht automatisch positiv.
Und ich werde mich auch hüten, die Rechtschreibung zu vergewaltigen, um angesagter zu sein. "Phat" und "Shice" werden also nie in meinen gewohnheitsmäßigen Schriftgebrauch einziehen, ebenso wenig wie man mich ohne Waffengewalt dazu zwingen kann, jemanden mit "Halts Mowl" zur Ordnung zu rufen. Die deutsche Sprache hat wie keine zweite auf der Welt die Möglichkeit, brachiale Äußerungen des Wohlgefallens und der Ablehnung sowohl inhaltlich als auch phonetisch in perfekter Harmonie hervorzubringen, warum also diese blöden Versuche, urdeutsche Worte zu verenglischen?
Ich werde alt. Und viele Dinge, die heute ungeheuer angesagt sind, halte ich für albern. Vielleicht sollte ich Statler und Waldorf aus der Muppetshow fragen, ob noch Platz auf ihrem Balkon ist. Wahrscheinlich gehöre ich da schon bald hin...