Was ist an Wokeness so schlimm?
Wenn man den Fehler macht und sich in den sozialen Netzen in eine Diskussion wagt, in der es um Wokeness, Diversität und ähnlichen Kram geht und sich Befürworter und Kritiker einen Schlagabtausch liefern, gibt es meistens eher am Rande im Thema bewanderte Zuschauer, die dann irgendwann fragen: „Aber was ist denn so schlimm an mehr Diversität?“ „Woke heißt doch, dass man aufmerksam ist und Ungerechtigkeiten und Diskriminierungen nicht mehr ignoriert? Wie kann man denn dagegen sein?“ „Was habt ihr denn gegen die Repräsentation von Minderheiten?“
Natürlich sind die Fragen nachvollziehbar, wenn man sich bisher kaum mit dem Thema und seinen tatsächlichen Auswirkungen beschäftigt hat. Aber dieses Unverständnis hat eben auch Ähnlichkeit mit der Frage, wieso man die DDR als Diktatur bezeichnet, obwohl sie doch „demokratisch“ sogar im Namen hatte. Man sollte sich nicht darauf verlassen, dass irgendwelche wohlklingenden Phrasen die wahre Natur beschreiben. Deswegen ist dieser Text hier leider notwendig, obwohl ich ihn wirklich nicht schreiben wollte. Aber Wokeness ist eine zutiefst rassistische und sexistische Ideologie.
Die Idee der Intersektionalität, die als quasiwissenschaftlicher Unterbau für die Wokeness herhalten muss, ist im Prinzip gar nicht falsch, aber furchtbar banal: der Gedanke, dass ein Mitglied zweier benachteiligter Minderheiten mehr Diskriminierung erfahren könnte als die Mitglieder, die jeweils nur einer dieser Minderheiten angehören. Ein schwarzer Schwuler würde also mehr diskriminierende Erfahrungen machen als ein schwarzer Heterosexueller oder ein weißer Schwuler. In der Logik der Aktivisten heißt das, dass die Gesellschaft ihm gegenüber eine besondere Fürsorgepflicht hätte, und indem man seine Diskriminierung bekämpft, geht es auch den anderen besser.
Davon ausgehend kam es zu fatalen Entwicklungen. Die mit allen Konsequenzen schlimmste Entwicklung ist eine Fixierung auf den Opferstatus, das Einordnen von Menschen in eine Opferhierarchie, die absurderweise den größten „Opfern“ die meiste Macht verleiht, weil diese ja schließlich Anspruch auf die größten Anstrengungen zur Linderung ihrer Leiden hätten. Prompt suchen Leute nach Kriterien, die es ihnen ermöglichen, in eine höhere Opferklasse zu gelangen. Notfalls ist man dann halt queer (auch wenn jeder etwas anderes darunter versteht), um wenigstens den Status einer sexuellen Minderheit zu erlangen.
Wenn es Opfer gibt, muss es aber auch Täter geben, die anders als die Opfer sind. Sind Frauen die Opfer, müssen die Täter Männer sein. Sind Schwarze die Opfer, müssen die Täter weiß sein. Sind Schwule die Opfer, müssen Heterosexuelle die Täter sein. Zusammengenommen heißt das: Der weiße, heterosexuelle Mann ist der ultimative Endgegner. Zur kurzen Überprüfung der These schaut man sich noch an, wer die reichsten und mächtigsten Menschen in den reichsten und mächtigsten Industrieländern sind. Aha, weiße, heterosexuelle Männer. Alles klar.
Natürlich ist das bei näherer Betrachtung absurd. Nur weil die Mächtigsten Männer sind, heißt das nicht, dass alle Männer mächtig sind oder davon profitieren würden, dass einige Geschlechtsgenossen Macht innehaben. Allein in Deutschland sind etwa drei Viertel der Obdachlosen männlich, weniger Macht geht kaum. Dass jeder Mensch nach einer oberflächlichen Kategorisierung in eine Täter- oder Opferschublade gesteckt und danach bewertet wird, wie viel oder wenig Zuwendung oder Hass er verdient hätte, kann nur abgrundtief ungerecht sein. Dennoch ist die Identitätspolitik, die jedes menschliche Zusammenleben auf Gruppenidentitäten und diese Einteilung in Täter und Opfer reduziert, genau das, was zahlreiche Neulinke heute antreibt und dabei aber auch viele Altlinke verprellt. (Das vermeintliche Erkennen dieser Täter-Opfer-Einteilung ist es schließlich, was „woke sein“ ausmacht, daher kann man Wokeness und Identitätspolitik synonym verwenden.)
Die Gruppenfixierung führt auch zu einer sehr verzerrten Sicht auf die menschliche Geschichte und die Gesellschaft. Wer der Meinung ist, dass Männer immer oben und Frauen immer unten waren, denkt gar nicht daran, dass ein kleiner Leibeigener im Mittelalter ganz sicher keine Macht über eine Hofdame hatte. Und damals wie heute galt: Die meisten sind in ihrer gesellschaftlichen Stellung näher an den Leibeigenen als an den Höflingen. Selbst mein Beispiel mit dem schwarzen Schwulen oben ist keine absolute Wahrheit: Bruce Darnell geht’s höchstwahrscheinlich deutlich besser als einem weißen Schwulen in einem kleinen rückständigen Kaff im Bible Belt der USA. Das Leben wird eben nicht nur durch die Zugehörigkeit zu Gruppen geprägt, die in der Woke-Ideologie wichtig sind. Wer alles durch die Linse der Identitätspolitik betrachtet, kann sich kein realistisches Bild von den Menschen machen. Und so kann man sich aber auch kein realistisches Bild von den Menschen machen, denen diese Wokeness zu weit geht. Die wenigsten dieser Leute sind FÜR Rassismus, Sexismus oder Diskriminierung. Sechs Argumente möchte ich herausgreifen und erläutern.
1. Es werden Menschengruppen gegeneinander aufgehetzt
Jede erfolgreiche und lebenswerte Gesellschaft basiert auf Kooperation. Wir sind soziale Wesen und nicht dafür gemacht, allein zu überleben. Anders als oft behauptet lässt sich der Großteil zwischenmenschlicher Beziehungen nicht auf eine Täter-Opfer-Beziehung reduzieren. Im besten Fall bringt jeder etwas ein, alle ziehen einen Nutzen daraus und individuelle Schwächen werden durch die gemeinsame Stärke kompensiert. Um wieder den immer wieder beschworenen Geschlechterkrieg anzusprechen: Für die meisten Leute in der überwältigenden Mehrheit der Menschheitsgeschichte war gerade das private Leben ein Miteinander. Auch wenn Männern mehr Rechte eingeräumt wurden, gingen diese mit mehr Verantwortung und Pflichten einher, weswegen man nicht behaupten kann, dass Männer ein einfacheres Leben als die Frauen geführt hätten und sich Frauen tatsächlich immer gewünscht hätten, dasselbe machen zu dürfen und zu müssen wie die Männer. Im Endeffekt haben Ehepaare einfach versucht, zusammen je nach ihren Möglichkeiten und Fähigkeiten ihre Familien so gut es ging durchzubringen. Das gelang nicht, wenn man gegeneinander arbeitete. Natürlich sind viele Ungerechtigkeiten erst in den letzten 100 Jahren beseitigt worden, aber so zu tun, als wäre die Geschichte eine einzige Pimmelparty, bei der man das Weibsvolk an Bett und Küche angekettet hätte, ist schlicht unwahr.
In den USA gibt es viele Schwarze, die offenbar der Meinung sind, die Weißen hätten die Sklaverei erfunden, um die Schwarzen zu unterdrücken. Dabei war die Sklaverei schon zu biblischen Zeiten ein alter Hut (und wird auch im Alten Testament erwähnt), Weiße wurden im Laufe der Geschichte ebenso verschleppt und versklavt, der muslimische Sklavenhandel dauerte weitaus länger als der atlantische Sklavenhandel nach Amerika und damals wie heute waren es Schwarze in Afrika selbst, die andere Schwarze einfingen, versklavten und verkauften. Selbst in den USA gab es schwarze Sklavenhalter. (Und natürlich hatten die meisten Weißen überhaupt nichts mit dem Sklavenhandel zu tun und auch nicht davon profitiert.)
Mit dem oberflächlichen (und zum großen Teil einfach nur falschen) Geschichtsverständnis wird nicht nur der Opferstatus bestimmter Gruppen untermauert, sondern auch der Unterdrückerstatus anderer begründet. Das schürt Ressentiments. Die einen nehmen den anderen vermeintliche Vergehen ihrer Vorfahren übel, deren Auswirkungen sie ihrem Empfinden nach bis heute ausbaden müssen, auf der anderen Seite fühlen sich viele ungerecht verurteilt und bleiben lieber unter ihresgleichen, um sich nicht ständig erniedrigen zu lassen für Dinge, die sie gar nicht gemacht haben (und ihre Vorfahren meist auch nicht).
Dazu kommt, dass in vielen Fällen ein seltsames Nullsummenspiel gespielt wird: Man will vermeintliche Ungerechtigkeiten beseitigen, aber das nicht, indem man Dinge gerechter gestaltet, sondern indem man gezielt die vermeintlichen Unterdrücker benachteiligt oder sie gezielt entfernt. So sind heute faktisch viele Menschen von Beförderungen im Beruf ausgeschlossen. Die Angehörigen der vermeintlich mächtigen Gruppe werden gezielt von Förderprogrammen und Hilfsangeboten ausgeschlossen. Das hat natürlich auch starke Auswirkungen auf die Lebensplanung.
Im Unterhaltungsbereich geht’s weiter: Man verfilmt alte europäische Märchen neu und besetzt weiße Rollen gezielt mit Nichtweißen. (Man könnte stattdessen natürlich zum Beispiel ein paar der vielen afrikanischen Erzählungen umsetzen und dabei ganz selbstverständlich alle Rollen mit Schwarzen besetzen, aber ich kann mich des Verdachtes nicht erwehren, dass man den Weißen unbedingt unter die Nase reiben will, wie ersetzbar sie seien.) Im Buchbereich lehnen Verlage systematisch Manuskripte von männlichen weißen Autoren ab. Bei Literaturpreisen wird gezielt darauf geschielt, ob die Preisträger auch pflichtgemäß irgendeiner vermeintlich marginalisierten Minderheit angehören, auch wenn ihr Geschreibsel unlesbar ist. Bibliotheken entfernen ältere Bücher in vorauseilendem Gehorsam, weil darin Sichtweisen vorkommen könnten, die Menschen früher über Minderheiten oder Menschen aus anderen Teilen der Welt hatten.
Das ist nicht der einzige Bildungsbereich, in dem die Identitätspolitik verheerende Wirkung zeigt. In manchen amerikanischen Schulen werden Schüler dazu gezwungen, sich nach Unterdrückungskriterien selbst in Opfer- oder Tätergruppen einzuordnen, an einigen amerikanischen Universitäten gibt es neue Rassentrennungen, in denen Aufenthaltsräume und gemeinsame Veranstaltungen für Weiße verboten werden, weil andere sich von der bloßen Anwesenheit von Weißen bedroht fühlen könnten und diese Orte oder Events somit keine Safe Spaces mehr wären.
Und natürlich gibt es deutliche Einschränkungen der Meinungsfreiheit: Die vermeintlich „Unterdrückten“ dürfen Dinge über die vermeintlichen „Unterdrücker“ sagen, für die diese wiederum umgekehrt rechtlichen Ärger oder zumindest eine Gefährderansprache riskieren würden. Selbst das Äußern von Fakten kann schon als Hassrede gewertet werden, wenn es nur durch einen „Unterdrücker“ passiert. Und aus den USA schwappt herüber, dass Weißen unterstellt wird, sie wären schon von Geburt an Rassisten, während gleichzeitig Nicht-Weißen bescheinigt wird, sie könnten ja gar nicht rassistisch sein.
Selbst im alltäglichen Zusammenleben wird Feindseligkeit geschürt, indem man den Mitgliedern der vermeintlich marginalisierten Minderheit beibringt, angebliche Mikroaggressionen bei Vertretern der unterdrückenden Mehrheit zu erkennen, auf die schlimmstmögliche Weise zu interpretieren und somit eine Abscheu gegen diese Menschen zu rechtfertigen. Selbst eigentlich ursprünglich linke Aussagen wie „Ich sehe keine Rassen und Hautfarben“ werden so zu neokolonialistischen Botschaften, die angeblich die Erlebnisse und Erfahrungen von Nichtweißen herunterreden und damit zutiefst rassistisch seien. Sehr oft ist es egal, wie sich jemand verhält, in jedem Fall lässt sich eine vermeintlich rassistische Geisteshaltung unterstellen, weil die Definition solcher Mikroaggressionen erst mal grundsätzlich davon ausgeht, dass die agierende Person bewusst oder unbewusst diskriminiert. Natürlich gelten diese fiktiven Mikroaggressionen nur als Rechtfertigung, um noch mehr Wiedergutmachung zu fordern.
Auch ohne den etwas akademischen Umweg über Mikroaggressionen macht sich allgemein zusätzlich die Tendenz breit, die Gefühle, Befürchtungen und Sorgen gewisser Bevölkerungsgruppen kleinzureden, lächerlich zu machen und sie sogar als Waffe einzusetzen, um diese Menschen emotional zu quälen, indem man über die Aussicht jubelt, dass die Befürchtungen wahr werden könnten.
Auf dieser Basis kann man nicht erwarten, dass sich so gesunde Kooperationen zwischen den Mitgliedern dieser verschiedenen Identitäten bilden. Man betont ständig die Unterschiede, diskriminiert einige Mitglieder und fordert von denen auch noch ein, sich demütig diese Erniedrigungen gefallen zu lassen. Niemand kann ernsthaft glauben, dass dies der Weg zu einer erstrebenswerten Gesellschaft ist, in der man gerne zu Hause ist und sich einbringt.