Klopfers Web » Texte » Kolumnen » Gesprengte Ketten

Gesprengte Ketten

Ich bin Single. Und höchstwahrscheinlich werde ich das auch bis an mein Lebensende bleiben. Ein kleiner Trost ist dabei natürlich, dass bis zu meinem Lebensende nicht mehr so unheimlich viel Zeit vergehen wird. Der Grund für beide Tragödien ist derselbe: Ich leite Kettenbriefe nicht weiter.
Ich kriege sehr oft Kettenbriefe, und meistens heißt es darin: "Wenn du diesen Brief innerhalb von 10 Minuten an 45 Menschen weiterschickst, so wirst du deine große Liebe finden. Wenn du es nicht tust, wirst du ewig unglücklich bleiben." Andere Kettenbriefe versprechen mir ein baldiges Dahinscheiden. Eine kleine Frage an diejenigen, die mir so etwas schicken und sich als meine Freunde bezeichnen: Was hab ich euch getan?

Man stelle sich einmal vor, wie das normale Leben aussehen würde, wenn es dort so zuginge wie in Kettenbriefen. Beim Bäcker: "Wenn Sie mir innerhalb von einer Minute zehn Brötchen in eine Tüte packen, dann geb ich Ihnen Geld. Wenn Sie es nicht schaffen, ramm ich Ihr Gesicht wiederholt gegen Ihren Ofen, bis Ihre Fresse aussieht wie eine Hackfleischpizza." Oder bei der Erziehung der Kinder: "Wenn du deine Hausaufgaben innerhalb von zehn Minuten schaffst, darfst du dir einen Keks nehmen. Wenn nicht, verkaufe ich dich an persische Teppichhändler." Warum zum Teufel soll ich solche Erpressungen in Briefen akzeptieren und die Absender noch als meine Freunde ansehen? Solche Mails sind nicht süß, sie sind auch kein Spaß, sie sind einfach entsetzlich nervig, verschwenden meine ohnehin schon spärliche Zeit und senken meine Bereitschaft, euch mal einen Gefallen zu tun, falls ihr mich darum bittet.

Eine weitere Form von Kettenmails sind die herzzerreißenden Hilferufe für todkranke Kinder, die angeblich Knochenmark, Geld, eine Niere oder Blut benötigen. In 99 Prozent der Fälle existieren diese Kinder nicht, sind schon tot oder aufgrund mangelnder Informationen nicht zu finden. Lasst euch mal folgende bizarre Idee durch den Kopf gehen: Wenn ihr das dringende Bedürfnis habt, kranken Menschen zu helfen, dann geht einfach ins nächste Krankenhaus und spendet dort eure Innereien. Damit helft ihr den real existierenden Menschen, die in eurer Nähe mit dem Tod ringen und für die nicht per Kettenmail geworben wird. Lebt euer Gutmenschentum gefälligst im echten Leben aus, anstatt euer Gewissen damit zu beruhigen, dass ihr eine Mail weiterleitet und damit anderen auf den Geist geht.

Die Kettenmail, die ich mit Abstand am häufigsten bekomme, ergeht sich aber in unendlicher Empörung über Bonsaikitten.com, einer satirischen Webseite, die sich mit angeblichen Kätzchen in Flaschen beschäftigt. Und die Mails fordern immer, dass man seinen Namen und seine Adresse unten ranhängt, um in einer Petition die Schließung der Seite zu fordern. Gesunder Menschenverstand? Fehlanzeige. Offenbar denkt keiner daran, dass die Katzen so eine Prozedur gar nicht überleben könnten und somit einen ziemlich armseligen Zimmerschmuck darstellen würden. Es denkt anscheinend auch keiner daran, dass Tierquälerei immer strafbar ist und nicht erst, wenn sich eine genügende Anzahl von Menschen offiziell mit Adressnennung darüber aufgeregt hat. Die Seite ist einfach nur ein Witz, deswegen ist sie überhaupt noch online.
Erstaunlicherweise scheint es den Aktionismus vieler Leute nicht zu bremsen, sobald man sie darauf aufmerksam macht. Es wird dann einfach gefordert, die Seite trotzdem zu schließen, weil sie ja so geschmacklos wäre. Sorry, Leute: Wenn ihr zulassen wollt, dass Seiten geschlossen werden, weil sie einfach nur den Geschmack verletzen und keine Gesetze, dann verabschiedet euch auch schon mal von Klopfers Web, denn auch hier gibt's genug Geschmäcker, die allein dank "Leute mit Durchblick" verletzt werden. Um es mit George Orwell zu sagen: "Falls Freiheit überhaupt etwas bedeutet, dann bedeutet sie das Recht darauf, den Leuten das zu sagen, was sie nicht hören wollen." Und bei Bonsaikitten hat man sogar die Möglichkeit, die Seite zu ignorieren.

Oft genug ist die Motivation hinter dem Versenden von Kettenmails aber auch einfach nur pure, ungefilterte Gier. Und zwar eine so große Gier, dass sämtliche Intelligenz unterdrückt wird. Und obwohl ich bezweifle, dass irgendwer auf mich hören wird, fasse ich es hier einfach mal zusammen:

  • Sony Ericsson verschenkt keine Handys für weitergeleitete Mails
  • Weder Microsoft noch Bill Gates verschenken Geld für weitergeleitete Mails
  • AOL, Nokia, Apple und IBM verschenken auch nichts für weitergeleitete Mails
  • Jede Person, welche für weitergeleitete Mails Geld verschenken will, ist wahrscheinlich von einem Gericht für geistig unzurechnungsfähig erklärt worden und verfügt über kein Vermögen
  • "Gratis iPods" sind nicht gratis, sondern werden über Abonnements in einem Schneeballsystem bezahlt; die meisten Teilnehmer sind am Ende gefickt und kriegen keinen iPod (das kann sich jeder mit geringsten Mathekenntnissen ausrechnen)
  • Die ICQ-Blume interessiert es einen feuchten Dreck, ob man irgendwelche Nachrichten weiterschickt. Sie wird nicht golden, verwandelt sich nicht in Puu, den Bären und macht auch keine lustigen Pupsgeräusche, wenn man mit dem Mauszeiger drüberfährt
  • ICQ bleibt auch kostenlos, wenn man keine dämlichen Aufrufe verbreitet. Schon allein deswegen, weil die gar keine Chance haben, jemandem eine Rechnung zu schicken (oder gibt irgendwer im Profil seine reale Adresse an?)

Ich hab die Hoffnung, dass irgendwann genug Intelligenz in den Menschen steckt, dass dieses Krebsgeschwür von Kettenmails von allein abstirbt. Es liegt bei euch, Freunde.

Nachtrag von *auf die Uhr guck* 2017: Was da oben steht, gilt natürlich auch für moderne Messenger-Dienste. WhatsApp bleibt kostenlos - und falls nicht, wird man das nicht mit Kettennachrichten verhindern können.

5
Dir hat's gefallen? Dann erzähl deinen Freunden davon!

Mehr zu lesen:

Thumbnail

Zahlenspielereien

Text veröffentlicht im
Klopfer stört es, dass bei der Bezifferung von Schäden durch Raubkopierer Fantasiezahlen herangezogen werden. [mehr]
Thumbnail

Vergessene Jahreszeit

Text veröffentlicht im
Der Weltklimagipfel in Kopenhagen ist zu Ende, und zur großen Überraschung von fast niemandem ging er aus wie das... [mehr]
Thumbnail

Steuern auf gedachten Reichtum

Text veröffentlicht im
Klopfer hat sich Gedanken darüber gemacht, wieso eine Vermögensteuer so schwer zu realisieren wäre. [mehr]
Thumbnail

Wie kann man Klopfers Web unterstützen?

Text veröffentlicht im
Klopfer erzählt, wie man helfen kann, Klopfers Web zu erhalten und besser zu machen - sowohl ohne als auch mit Geldeinsatz. [mehr]

Nach oben