Herzlosigkeit
Ich sag es am besten gleich: Diese Kolumne wird nicht lustig. Das Thema ist auch nicht lustig. Ich schreibe diesen Text eine Woche, nachdem ein 17jähriger in und um Winnenden 15 Menschen erschoss und sich dann selbst richtete. Als ich an diesem Tag erwachte und im Fernsehen davon hörte, schrieb ich einen Eintrag im Aktuellen, den ich nach und nach erweiterte (da er einige Leser in der Sache auf dem Laufenden hielt, weil nicht jeder einen Fernseher oder ein Radio in der Nähe hatte) und der mit über 360 Kommentaren vermutlich noch längere Zeit der meistdiskutierte Beitrag auf der Seite sein wird.
Ich habe für den Beitrag einige Kritik einstecken müssen, insbesondere weil ich es gewagt habe, sofort den üblichen Sündenbock ("Killerspiele") zu verteidigen, und das noch während der Mörder frei herumlief. "Denkt der denn gar nicht an die Opfer?", ging einigen wohl durch den Kopf, die mich als herz- und geschmacklos geißelten.
Um zu verstehen, warum ich den Eintrag so geschrieben habe, wie er dann auftauchte, muss man sich anschauen, wie die Medien mit solchen Taten umgehen. Wir haben es in Erfurt gesehen, wir haben es in Emsdetten gesehen, und wir haben es genauso auch in Winnenden gesehen. Solange der "Amoklauf" noch nicht beendet ist, warten die Reporter und Moderatoren der Nachrichtensendungen auf jede Nachricht über den Verlauf der Tat. Opferzahl, die womöglich verwendeten Waffen, angebliche Komplizen – die ganze wilde Mischung zwischen Fakten, wilden Gerüchten und Mutmaßungen füllt die Berichterstattung, bis endlich die Polizei bestätigt, dass der Täter tot ist. Zu diesem Zeitpunkt ist schon bekannt, dass der Mörder recht jung ist, und nachdem man einige Zeit damit versendet hat, die Ereignisse zusammenzufassen und Telefonate mit Kriminologen und Pressesprechern zu übertragen, traut man sich schon kurz nach dem Ende des Dramas, Ursachen für die Tat zu finden, und unter Garantie werden die bösen "Killerspiele" zuerst genannt. Bei N24 war dieser Punkt um 14 Uhr erreicht, nicht einmal eine Stunde nachdem die offizielle Bestätigung über den Ticker lief, dass der Täter tot ist.
Mein Beitrag im Aktuellen verhöhnte nicht die Opfer, feierte auch nicht den Täter, sondern nahm die Reaktion der etablierten Medien voraus, indem es das verlogene Schleichen um den heißen Brei übersprang und das ansprach, was den ganzen Reportern, Journalisten, Moderatoren, Politikern und sonstigen Vertretern des gesellschaftlichen Gewissens stundenlang in den Fingern juckte, bevor sie entschieden, dass es jetzt genug Pietät gewesen wäre und man endlich die Killerspiele zur Sprache bringen könnte.
Warum habe ich nicht über die Opfer gesprochen und meine Betroffenheit zum Ausdruck gebracht? Weil ich Respekt vor den Opfern und den Schmerz ihrer Angehörigen habe. Ich finde es abscheulich, was passiert ist, aber ich bin nicht betroffen. Ich kannte niemanden der Opfer, keinen der Angehörigen, und so zu tun, als hätte ich einen schweren Verlust oder einen tiefen Einschnitt in mein Leben erlitten durch diese Tat, wäre wohl die widerwärtigste Verhöhnung der Gefühle der Angehörigen.
Ich hätte kotzen können bei jedem der Reporter, die mir im Fernsehen oder in der Zeitung versicherten, wie betroffen sie von dieser Tat wären und welche Trauer sie bedrücken würde, während sie in diese Kleinstadt eingefallen sind und den wahren Traumatisierten rücksichtslos die Kameras in die tränenüberströmten Gesichter drückten oder von geschockten Einwohnern die ungefilterten Emotionen forderten, um auf diese schmutzige Art ihr Geld zu verdienen. Vielen Schülern wurde Geld geboten, wenn sie sich möglichst herzzerreißend ablichten ließen oder irgendwelche angeblichen Infos über den Täter herausrückten, obwohl der schon lange nicht mehr auf diese Realschule ging und dessen Freizeitgewohnheiten angesichts seiner Einzelgängernatur wohl kaum Allgemeinwissen unter den Kindern gewesen sein dürften. Diese Journalisten waren schlimmer als Aasgeier, denn Aasgeier tun wenigstens nicht so, als würden sie die Leichen betrauern, in deren Leibern sie herumwühlen, um sich davon zu ernähren. Wie viele von diesen Schmierlappen, die wegen Winnenden öffentlich Krokodilstränen vergossen, werden nächste Woche wieder vollkommen emotionslos in den Nachrichten berichten, dass 20 Leute durch eine Autobombe im Irak umgekommen sind, 240 Menschen in Afrika bei einem Stammeskonflikt ermordet wurden oder dass ein Geisterfahrer auf der A3 einen Unfall verursacht hat, bei dem sieben Menschen ihr Leben verloren?
Wohlgemerkt: Ich verlange nicht, dass diese Leute bei solchen Meldungen in Tränen ausbrechen und jeden Toten beweinen. Ich möchte von den Nachrichtensendungen informiert werden, nicht gerührt. Wenn ich heulen will, obwohl es mir eigentlich gut geht, guck ich mir einen Liebesfilm an. Dass Menschen traurig darüber sind, wenn sie Angehörige verloren haben, muss nicht gesagt werden, das ist so natürlich wie nasse Straßen nach einem Regenguss. Man sollte diese Leute einfach in Ruhe trauern lassen, anstatt ein Medienspektakel um das Trauern an sich aufzubauen.
Ein Mädchen hat vor einigen Tagen in einem meiner Foren geschrieben, dass es zwar schrecklich ist, was passiert ist, aber sie sei nicht wirklich berührt. Und das liegt nicht etwa daran, dass sie herzlos oder abgestumpft wäre. Wie auch ich hat sie keinen Grund, betroffen zu sein. Und wenn Betroffenheitsheuchelei nicht nur toleriert, sondern sogar eingefordert wird, dann stimmt etwas nicht mit den Ansprüchen an den Journalismus, an unsere Mitmenschen und an unsere eigenen Gefühle. Ich will trauern, wenn ich traurig bin, nicht wenn andere es von mir erwarten. Und deswegen habe ich die Opfer und die Gefühle darum weitgehend aus dem Beitrag herausgehalten. Vielleicht bin ich ja ein Arschloch. Aber ich glaube, hier habe ich mir nichts vorzuwerfen.