Oli und die Pinguine
Hallo, liebe Kinder! Seid ihr alle da?
Ich höre euch nicht!
Gut, das ist prinzipbedingt, also könnt ihr auch aufhören, euren Computermonitor anzubrüllen; die Leute glauben sonst, ihr wärt auf Drogen.
Für manche von euch sind Pixi-Bücher sicherlich der Inbegriff für kindgerechte Literatur. Nicht für mich, ich bin in der DDR aufgewachsen und hatte keinen Zugang zur kapitalistischen Schundliteratur, die der Indoktrinierung des deutschen Nachwuchs mit imperialistisch gefärbten Ideen von der Dominanz amerikanischer Banker, Kriegstreiber und Ausbeuter der Arbeiterklasse diente. *lufthol* Oder so. (So einige Leute in der DDR hatten eine recht blühende Fantasie, was den Subtext diverser Westmedien für Kinder anging. Ich kann mich erinnern, dass eine meiner Lehrerinnen mal empört in einer Folge "Hallo Spencer" eine Allegorie auf die deutsch-deutsche Teilung zu erkennen glaubte, wobei die angebliche Personifizierung der DDR als besonders gefährlich dargestellt wurde, zweifellos nur, um in den westdeutschen Kindern eine Angst vor dem in Bälde bevorstehenden Sieg des Sozialismus zu schüren.)
Pixi-Bücher gibt es jedenfalls immer noch. Und man kann sie sogar kaufen! Und damit meine ich nicht nur, dass man beim Buchhändler seines Vertrauens ein Exemplar gegen bare Münze eintauschen kann; wer genug Geld auf den Tisch legt, darf sich sogar sein eigenes Pixi-Buch machen lassen. Die Deutsche Bahn tat dies im Jahr 2004 mit dem Öko-Thriller "Oli hilft Prima und Klima".
Prima und Klima sind die Pinguine auf dem Cover. (Motzi und Fotzi hatten gerade keine Zeit.) Sie leben am Südpol, was für Pinguine zugegebenermaßen nicht ganz ungewöhnlich ist. Jedenfalls ist ihnen warm. Das ist wiederum relativ unüblich. Also beschweren sie sich telefonisch in Deutschland bei ihrem "Freund" Oli. Gut, sie hätten auch bei den Chinesen anrufen können, die blasen mehr Kohlendioxid in die Atmosphäre, aber erstens können sie wohl kein Chinesisch und zweitens würden die Gelben sie vermutlich einfach essen. Oli jedenfalls lädt das Federvieh prompt zu sich ein, als wenn wir nicht schon genug Probleme mit der Integration von Immigranten hätten.
Wenn ihnen am Südpol schon warm ist, werden sie bei uns verdampfen.
Pinguine haben ja bekanntlich keine reguläre Möglichkeit der Einreise in die EU, weil sie unsere Zukunft ruiniert haben. Also springen Prima und Klima auf eine winzige Eisscholle, um sich an die deutsche Küste treiben zu lassen.
Ach, Klima, die alte Witzesau. Immer am Scherzen, immer vergeblich.
Wenn die mit dem Eiswürfel bis an die deutsche Küste gekommen sind, scheint es mit der globalen Erwärmung ja doch nicht so schlimm zu stehen. Ich weiß allerdings nicht einmal, wo diese Küste sein soll, denn offenbar ist die nächste Stadt Berlin, die sich im Wesentlichen dadurch auszeichnet, dass sie nicht am Meer liegt und keine Flughäfen bauen kann.
Der Schaffner der Deutschen Bahn ist natürlich sehr unrealistisch dargestellt; normalerweise müsste er den Bengel allein an irgendeiner Milchrampe mitten in der Walachei absetzen, weil Oli keinen Fahrschein hat. Stattdessen freut er sich vermutlich über seine allmorgendlichen Pillen, weil die ihm inzwischen anscheinend schon so lustige Halluzinationen über Pinguine in der Bahn bescheren.
Nach der Fahrt ist den Pinguinen natürlich sehr warm, weil in deutschen Zügen die Klimaanlage genau dann den Geist aufgibt, wenn es warm genug ist, um sich eine Klimaanlage zu wünschen. Also setzen sie sich erst mal in den Kühlschrank eines Eisverkäufers am Bahnhof, bis Klima seine Kumpanen wegen der Energieverschwendung rügt.
Bei Oli wird kräftig gehirnstürmt, wie man die Leute in Deutschland nun endlich dazu bringen könnte, weniger Energie zu verbrauchen, weil wir allein für den warmen Südpol verantwortlich sind. (Oder aber wir sind das einzige Fleckchen auf der Erde, bei der die Benutzung von Zügen der DB möglich ist, um den ökologischen Fußabdruck zu verringern.) Da sprechende Pinguine in Deutschland natürlich einfach keinerlei mediale Aufmerksamkeit bekommen würden, werden Auftritte im Zirkus und im Fernsehen ebenso abgebügelt wie das umweltverschmutzende Verteilen von Flugblättern. Also backt man kleinere Brötchen: Oli will auf den Spielplatz!
Kinderfreundliches Deutschland: Um auf den nächsten Spielplatz zu kommen,
muss man entweder mit dem Auto fahren oder mit der S-Bahn.
Wenn die S-Bahn denn überhaupt fährt.
Ich bezweifle ein wenig, dass Eltern gerne das tun werden, was irgendein dahergelaufener Südländer im Frack ihren Kindern auf dem Spielplatz erzählt hat, aber ich bin ja auch ein unverbesserlicher Zyniker.
Bei der bemerkenswerten ethnischen Vielfalt der Kinder stellt sich besagter Zyniker die Frage, warum Oli, Prolli und Kolli eigentlich auf den Spielplatz eines Asylantenheims gegangen sind; schließlich kriegt man als Asylbewerber ja nicht genug, um irgendwas davon zu verschwenden. Nicht mal Energie. Aber egal, die Großföten verstreuen sich in alle Winde, um ihren Eltern die Rettung der Pinguine aufzubürden. Der Anblick des Plans von Prima und Klima weckt in mir allerdings gewisse Zweifel, ob man sich damit dem Abschmelzen der Pole tatsächlich wirksam entgegen stemmt.
Einige Wochen später schneit es. Und obwohl Oli noch kurze Zeit zuvor mit T-Shirt am Strand herumgelaufen ist, findet er das gar nicht komisch, weil es doch Winter ist. Und plötzlich schlägt der Blitz der Erkenntnis beim Leser ein. Woher kennt Oli Pinguine vom Südpol? Warum haben die Pinguine einen Telefonanschluss und Olis Nummer? Warum können sie sprechen? Warum wundert sich niemand darüber, dass Oli mit zwei großen Vögeln durch die Gegend läuft? Ganz klar: Oli ist geisteskrank. All das spielte sich nur in seiner Fantasie ab. Oli baute sich eine kleine, heile Welt auf, in der Pinguine sprechen, die Bahn problemlos funktioniert, Fahrkarten erschwinglich sind und in der er nicht seine Eltern an einem schicksalhaften Nachmittag brutal mit einer Axt abgeschlachtet hat, um schließlich von den Nachbarn lachend in der Badewanne voller Blut gefunden zu werden. Das tragische Schicksal eines kleinen, wahnsinnigen Jungen.
Vielen Dank an Vera für den Hinweis und die Fotos! ^^
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Der Schluss hat mir besonders gut gefallen.