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Sommer

Sommer ist an sich etwas Schönes: knappe Höschen, enge Oberteile… Es wäre nur schön, wenn bei mir in Spandau auch die Mädels das tragen würden und nicht nur irgendwelche Kerle. Zum Glück ist Berlin eine ausgesprochen große und abwechslungsreiche Stadt, die es ermöglicht, sich bei bulliger Hitze anderswo den Augenschmaus zu holen, der einem in unmittelbarer Umgebung verwehrt wird. Hohe Temperaturen sind immer ein willkommener Anlass, sich ins öffentliche Leben zu stürzen und viele neue Erfahrungen, Aussichten und vor allem Gerüche zu sammeln, die später ein überzeugendes Argument dafür abliefern, dass es doch nicht so schlimm ist, allein in seinem Kämmerchen zu sitzen und zu arbeiten, anstatt sich mit all den Hominiden da draußen abgeben zu müssen.

Da steht man im voll besetzten Bus neben demjenigen, dessen jährliche Dusche erst in zwei Wochen fällig ist, und hofft darauf, dass die Fahrgäste an den Kippfenstern in Bälde vom Blitz der Erkenntnis getroffen werden, der ihnen sagt, dass man diese Fenster auch öffnen kann. Auf dem linken Fuß hat der Nachbar seinen funkelnagelneuen Amboss abgestellt, der rechte dient als Bremsklotz für einen Kinderwagen. Kein Wunder, dass ich päpstliche Gefühle bekomme und den Boden küssen will, sobald ich den Viehtransporter verlassen habe. Vor der Weiterfahrt ist eine Stärkung beim örtlichen Fettversorgungsdienstleister mit dem gelben M angesagt, weil man auch hier immer wieder ein wundervolles Sammelsurium an Fehltritten menschlicher Entwicklung kennenlernen kann. Diesmal ist es ein Kind von etwa sieben Jahren, welches durch die Gegend düst und mit sämtlicher Kraft allen Gästen im Sekundentakt ein verächtliches „Fleischfresser!“ entgegen schleudert. Hach, wie putzig. Ich hoffe, der Fratz fällt hin und bricht sich den Kiefer. Wo ist eigentlich das Elterntier abgeblieben?

Ah, dort sitzt ja der Erzeuger. Man weiß sofort, von wem das Blag zumindest einen Teil seiner Arschlochgene geerbt hat. Der Papa trägt einen blütenweißen Wollpullover, obwohl draußen über 30 Grad im Schatten sind. Aber klar, der mit Designerlogo geschmückte Sweater passt so gut zur ebenfalls blütenweißen Hose und den ebenso blütenweißen Schuhen. Auf dem Tablett vor dem Samenspender steht nur ein Becher Orangensaft, an dem alle paar Minuten vorsichtig genuckelt wird; Hamburger, Pommes oder sonstige leckere Adipositas-Ursachen strafte er offenbar mit purer Verachtung. Ich vermute, er kauft eigentlich nur im Bioladen ein, packt sich seinen elektrisch angetriebenen Renault mit Hirse, Haferflocken und Krüppel-Obst voll und protzt dann vor den Bekannten mit seinem guten Gewissen. Und was sucht der hippe Schnösel mit seiner Brut in diesem von ihm offenbar so ungeliebten Fresstempel? Klar: Man kann da so schön mit einem Kumpel sitzen und über alte Zeiten und den Freundeskreis reden. Auf den lässig aus der Tasche gezogenen iPhones schaut man sich private Fotos an: „Das hier, ne, das sind meine Schwiegereltern vor der Scheidung, haha!“

In der Zwischenzeit hat der Filius die Lust daran verloren, den anderen Anwesenden den Genuss am toten Tier vorzuhalten, und drischt stattdessen mit bloßen Händen auf die vollen Tabletts in der Rückgabestation ein, bis Mayonnaise, Fritten und abgestandene Cola spritzen. „Ja, man merkt schon, dass er ein ganz Kreativer ist, was so Musik angeht“, meint der stolze Papa zum Kumpel nach einem Seitenblick auf seine randalierende Lendenfrucht, und wie so oft muss ich daran denken, dass dort wieder einmal jemand sitzt, der eigentlich nur der grenzenlosen Toleranz seiner Mitmenschen verdankt, dass er noch nicht totgeschlagen wurde. Vermutlich hat er davon nicht einmal eine blasse Ahnung und hält sich selbst für eine ganz dufte Granate. Im Prinzip müsste ich Vater und Sohn im Dienste der Menschheit mit einem Stuhl die Schädel einschlagen, aber Edelmut und Faulheit gehen bei mir mal wieder eine Symbiose ein, weswegen ich lieber meinen Weg fortsetze. Ich gönne mir jedoch den Luxus, mich mit meinem MP3-Player zumindest akustisch von der Außenwelt abzukoppeln.

Bei der Fahrt mit der S-Bahn genieße ich die Klänge udmurtischer Volksmusik (nicht wirklich) und lasse meinen Blick über die mitreisende Biomasse schweifen. Schräg gegenüber sitzen zwei junge Typen in Unterhemden, die der goldenen Ära der Boybands Anfang der 90er Jahre entsprungen zu sein scheinen, als man den Mitgliedern zugeknöpfte Hemden, Freundinnen und Coming-Out verbot, damit sie für die gerade erst geschlechtsreifen Mädels als angemessene Projektionsfläche erotischer Fantasien gelten konnten. Angeregt unterhalten sich die Beiden. Neugierig zupfe ich die Kopfhörer aus meinen Ohren, lausche kurz dem Gespräch auf Englisch und kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. Jedes zweite Wort ist „gay“, und ich glaube nicht, dass sie damit „vergnügt“ meinten. So viel zum Coming-Out.

Vor dem Umstieg in die Straßenbahn ergibt sich die Gelegenheit, eine weitere Facette der Vielfalt urbaner Bevölkerung zu genießen. Am Ausgang des Bahnhofes sind einige junge Menschen versammelt, die aus der Enge des bürgerlichen Lebens auszubrechen wagten und nun mit wilden Frisuren, speckigen Lederjacken und schnoddriger Ausdrucksweise ihre Individualität zur Schau stellen, wobei sie dann ironischerweise doch recht uniform wirken. „Ey, haste Kleingeld? Nee? Wichser!“, ruft eine junge Dame aus dieser Gruppe mir in einem Atemzug hinterher, bevor ich überhaupt reagieren kann. Es wirkt weniger wie eine ehrliche Bitte und eher wie eine Redewendung, so wie andere „Guten Tag“ sagen.

Die Straßenbahn selbst ist auch sehr gut gefüllt. Auf meiner linken Seite sind Schulmädchen aus England, die das sonnige Wetter auf ihrer Abschlussfahrt dazu benutzen, mittels knapper Bekleidung ein wenig Bräune in ihre Haut zu kriegen. Auf der anderen Seite steht ein Typ, der pausenlos telefoniert und allen seinen Gesprächspartnern von seinem zukünftigen iPhone 5 zu erzählen. Die Straßenbahn schaukelt, ich schwanke von links nach rechts, meine Gefühle schwanken mit, so zwischen leichter sexueller Erregung und gewalttätigen Fantasien, die die Quasselstrippe neben mir betreffen. Als der Schwätzer endlich aussteigt, werde ich den Gang einige Meter weiter gedrängt. Auf dem Einzelsitz neben mir sitzt ein Typ mit kurzen Hosen, der offenbar unter Sackbrand leidet und deswegen beim Sitzen die Beine spreizt, als wäre er beim Ballett oder auf dem Abort. Dummerweise schnürt er mit seiner rechten Kackstelze die Bewegungsfreiheit im Gang ein. Ihm ist das bewusst, aber er schaut verkrampft aus dem Fenster, damit er so tun kann, als würde er das nicht bemerken. Auch ich sehe betont unbeteiligt aus, als ich ihm mit meinem schweren Gepäck wie zufällig die Kniescheibe breche. Der erstickte Schmerzensschrei klingt wie Engelsgesang in meinen Ohren, und freundlich lächelnd ringe ich mir ein „Oh, Entschuldigung!“ ab.

Noch zehn Minuten soll die Fahrt dauern, und ich lausche interessiert den Erzählungen der britischen Schulmädchen, die mittlerweile zwanglos über ihre sexuellen Erfahrungen plaudern und sich in diesem Land unbelauscht wähnen. Die Bahn hält, die Türen öffnen sich. Aussteigen will niemand, aber eine Frau steht mit einem großen Hund am Eingang und möchte trotz des erheblichen Füllstands der Bahn mitbefördert werden.

„Bahn ist voll, Fotze!“, denke ich freundlich lächelnd. Dennoch quetscht sie sich mitsamt dem Rüden hinein. Das arme Tier schaut leidend nach oben, den Kopf zwischen den Unterleibern der anderen Fahrgäste eingeklemmt. Bei der nächsten Station steigt die Dame mit ihrem Kaniden wieder aus, offenbar wären die zweihundert Meter zu Fuß eine unzumutbare Wegstrecke gewesen. Um die negativen Gefühle dieser Frau gegenüber abzubauen, schlage ich noch einmal meine Tasche gegen die geschundene Kniescheibe des Fahrgastes auf dem Sitz vor mir. Sein Winseln sorgt für ein wohliges Gefühl in meinem Bauch. Ich überlege, ob ich es noch einmal tun sollte, doch da nähert sich meine Endstation, und ich muss das prall gefüllte Beförderungsmittel verlassen. Während ich zum Haus schlendere und ein Liedchen pfeife, erfüllt mich eine tiefe Dankbarkeit. Ohne meine langwierigen Wege durch die Stadt und die zufälligen Begegnungen mit völlig fremden Menschen würde ich vielleicht noch vollends zum Menschenfreund werden. Und das wäre nun wirklich unerträglich.

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