Für die Ewigkeit
Einer der großen Meilensteine in der Entwicklung des Menschen war zweifellos der Wechsel vom Nomadenleben zur Sesshaftigkeit. Von nun an hatte der Mensch sein festes Heim, konnte Ackerbau betreiben und sein Vieh ganz bequem im Garten heranzüchten, anstatt sich morgens um 5 Uhr zur Jagd aufzumachen. Mit dem Eigenheim entfiel allerdings auch die Notwendigkeit, überflüssig gewordenen Krempel loszuwerden, der bei einem Leben auf Wanderschaft nur nutzloser Ballast wäre.
Seit dieser Zeit fällt es der Mehrzahl der Menschen schwer, Dinge wegzuschmeißen, die man längere Zeit besessen hat. Ich gehöre eindeutig zu dieser Gattung. Selbst Umzüge, die eigentlich schon automatisch für das beabsichtigte und unbeabsichtigte Verschwinden von Gegenständen jeglicher Art sorgen, konnten ein stetes Anwachsen meines Besitzstandes nicht verhindern.
Ganz besonders große Hemmungen hat man ja beim Wegwerfen von Büchern. Bücher - so ist es uns inzwischen in Fleisch und Blut übergegangen - werden nicht weggeschmissen. Lieber verschenkt man sie oder spendet sie an die Bibliothek, aber man traut sich nicht, die schwere Arbeit eines Schriftstellers der Altpapiertonne zu übereignen. Im letzten Jahrhundert hatte man sich hierzulande zwar kurz angewöhnt, so manche Literatur öffentlich in Scheiterhaufen endzulagern, aber im Prinzip sind wir ein Volk mit tiefstem Respekt vor gebundenen Papierstapeln.
Wie ich darauf komme? Ganz einfach: Letztens durchstöberte ich meinen Schrank und meine Regale nach einem bestimmten Buch. Ich habe nicht nur dieses Buch gefunden, sondern noch ganz andere Perlen: Die Handbücher von Works 2.0, MS-DOS 6.22, zwei alten Druckern, die schon lange nicht mehr existieren, und ein AOL/US-Robotics Modemhandbuch. Insgesamt deutlich über 1000 Seiten Papier ohne jeden literarischen Wert, und trotzdem konnte ich mich jahrelang nicht überwinden, sie dem Recycling zuzuführen. Ich nahm mir vor, meinen gesamten Buchbestand noch einmal kritisch zu durchleuchten. Eins vorweg: Es ist mir nicht gelungen, ich hab viel zu viele Bücher, die teilweise in mehreren Reihen im Regal stehen, und ich hatte keine Lust, mich durch diese Massen zu graben. Wie ich jedoch meinen Blick über die sichtbaren Buchrücken streifen ließ, durchzuckten mich Fragen, die mir fast schon ein schlechtes Gewissen machten: Werde ich nochmal in diesem Leben in Pascal programmieren? Brauche ich die "Rechte für Wehrpflichtige" aus dem Jahr 1998 wirklich noch? Habe ich eine Verwendung für das unsägliche Buch "Strategie und Action" eines gewissen Christian Schmidt? Und wo sind eigentlich meine "Bibi Blocksberg"-Bücher? Binnen 10 Minuten habe ich das Todesurteil für so einige Bücher gesprochen, und auch wenn der Vollzug noch etwas warten muss, so verspüre ich einige Schuldgefühle. Ich versuche selbst ein Buch zu schreiben (komm nur selten zum Weiterschreiben), ich weiß, wie viel Arbeit das ist.
Ähnlich sieht es bei Zeitschriften aus. Ich besitze immer noch einige Jahrgänge der c't. Sie sind wahrscheinlich schon kurz nach Erscheinen total veraltet gewesen und betteln wahrscheinlich nur darum, endlich erlöst zu werden. Ich war schon ganz stolz auf mich, weil ich beim letzten Umzug noch einen Stapel TV- und PC-Magazine aus dem Jahr 1993 entsorgte, und zwar passend zum zehnjährigen Jubiläum. Allerdings hab ich die Fernsehzeitungen nicht aus sentimentalen Gründen aufgehoben, sondern einfach im Schrank vergessen. Natürlich kommt den Printmedien der Umstand zugute, dass Papier nicht nur geduldig ist, sondern auch den Gebrauch bei vorsichtigem Umgang nicht mit einem Totalversagen bestraft. Videokassetten, Elektrogeräte und Kugelschreiber reißen dagegen auch gerne mal schon bei erstmaliger Verwendung die Hufe hoch und werden dann eher mit Genugtuung in den Müll gefeuert.
Zum Glück kann man den Schmerz über den Verlust lang beherbergter Dinge mit einer Ersatzbefriedigung bekämpfen: Dem Sammeln. Das Schöne daran ist, dass man sich nicht einfach nur auf dem Besitz ausruht, sondern sogar ohne Reue ganz bewusst neue Schmuckstücke jagen darf. Ich sammle leidenschaftlich gern, ob Münzen, Geldscheine, Ü-Ei- oder Anime-Figuren oder auch Pencilboards. Und ich bin wahrscheinlich ein Typ, der von professionelleren Sammlern verachtet wird: Ich sammle, was ich schön finde, nicht was besonders wertvoll ist (auch wenn ich wahrscheinlich manche Figuren habe, die etwas mehr als drei Euro wert sind). Ich beschränke mich auch bei den Münzen nicht auf ein bestimmtes Sammelgebiet - wenn ich eine Münze finde, die ich vorher noch nicht besaß, verspüre ich schon tiefe Befriedigung und fasse das Geldstück dann auch mal mit blanken Pfoten an, was einen echten Numismatiker wahrscheinlich in immerwährendes Koma versetzen würde. Aber manchmal kann man auch als Wasserbüffel unter lauter Schwänen glücklich sein.
Die oben erwähnten Handbücher sind inzwischen übrigens in der Papiertonne gelandet. Im nachhinein fiel mir ein, dass ich sie nie gelesen hab. Das ist allerdings auch nicht schlimm in Zeiten, in denen Bücher mehr Prestigesymbole als Medium sind. Früher war "Mein Kampf" populär und stand in jedem Regal, aber wer hat den Schinken damals gelesen? Jahrzehnte später kaufte man Hawkings "Kurze Geschichte der Zeit" oder Wickerts "Der Ehrliche ist der Dumme", um es zu verschenken, und auch diese Werke dürften zumeist ungelesen im Regal ihr Dasein gefristet haben, um gelegentlich vorbeikommenden Gästen einen Hauch von Bildungsbürgertum vorzugaukeln. Ein bisschen schade ist es ja schon, dass der deutsche Respekt vor Büchern am Ende doch nur auf Äußerlichkeiten beruht.