Auf Platz 2 - und trotzdem an der Spitze?
Nuff! Ich grüße das Volk.
Am Wochenende war der Große Preis von Bahrain, und dort ging Sebastian Vettel zuerst ins Ziel. Und nun stellt euch vor, die deutsche Presse hätte gemeldet, dass Lewis Hamilton am Ende die Spitzenposition gehabt hätte.
Undenkbar? Bei der Formel 1 vielleicht, aber wenn es um Steuern geht, kann der deutsche Qualitätsjournalist nicht mehr bis 1 zählen. Deswegen kriegen wir gerade dauernd Schlagzeilen wie folgende:
Das ist nur ein kleiner Ausschnitt der deutschen Presselandschaft, aber die Botschaft ist immer gleich: Schon mit 54.000 Euro zahlt man bei uns den Spitzensteuersatz von 42 Prozent! Potzblitz! Da muss man sich aber wirklich aufregen! Donnerknispel aber auch!
All die Journalisten, die da offenbar aus einer tendenziösen Studie vom Institut der Deutschen Wirtschaft Köln abgeschrieben haben, hätten mal lieber einen Blick ins Einkommensteuergesetz geworfen. Da werden nämlich folgende Tarife genannt:
- bis 8 820 Euro (Grundfreibetrag):
0;- von 8 821 Euro bis 13 769 Euro:
(1 007,27 · y + 1 400) · y;- von 13 770 Euro bis 54 057 Euro:
(223,76 · z + 2 397) · z + 939,57;- von 54 058 Euro bis 256 303 Euro:
0,42 · x – 8 475,44;- von 256 304 Euro an:
0,45 · x – 16 164,53.Die Größe „y“ ist ein Zehntausendstel des den Grundfreibetrag übersteigenden Teils des auf einen vollen Euro-Betrag abgerundeten zu versteuernden Einkommens. Die Größe „z“ ist ein Zehntausendstel des 13 769 Euro übersteigenden Teils des auf einen vollen Euro-Betrag abgerundeten zu versteuernden Einkommens. Die Größe „x“ ist das auf einen vollen Euro-Betrag abgerundete zu versteuernde Einkommen. Der sich ergebende Steuerbetrag ist auf den nächsten vollen Euro-Betrag abzurunden.
Auf Deutsch heißt das: Bei Alleinstehenden sind ab 54.058 Euro Jahreseinkommen 42 Prozent fällig (für das, was diesen Betrag übersteigt) - aber ab 256.304 Euro glatte 45 Prozent! Die immer genannten 42 Prozent sind nicht der Spitzensteuersatz, der ist tatsächlich nur auf Platz 2 der Steuertarife. Der Spitzensteuersatz liegt bei 45 Prozent und wird ab Einkommen von über einer Viertelmillion im Jahr fällig, betrifft also gar nicht so viele Leute.
Jetzt kann man natürlich vollkommen legitim der Meinung sein, dass der Verdienstabstand zwischen dem zweithöchsten und dem höchsten Tarif zu groß ist und dass der zweithöchste Tarif zu früh einsetzt. Aber es ist einfach nicht richtig, dass 10 Prozent der deutschen Arbeitsbevölkerung den Spitzensteuersatz zahlen würden.
Gerne wird zur Verschleierung auch so getan, als wäre der tatsächliche Spitzensteuersatz von 45 Prozent eine eigene "Reichensteuer". Aber das stimmt nicht - steuerrechtlich ist das einfach nur einer der normalen Einkommensteuertarife.
Warum regt mich das so auf? Weil die Leute, die über sprachliche Begriffe die Deutungshoheit haben, damit eben auch Macht gewinnen. Diese ganzen Berichte haben ja ein Ziel (Steuersenkungen für die Besserverdienenden zu fordern nämlich), aber die Wirkung kann man natürlich viel eher erreichen, wenn man der Bevölkerung das Gefühl vermittelt, sie würde selbst übermäßig durch die Steuern geschröpft werden oder wäre zumindest kurz davor. Und zum Aufpeitschen des Volkes eignet sich "Ihr zahlt (fast) den Spitzensteuersatz!" klarerweise viel besser als "Ihr zahlt (fast) den zweithöchsten Einkommensteuersatz!" Auf Platz zwei zu sein, lässt halt das Blut nicht so sehr kochen, im Positiven wie im Negativen.
Die Journalisten, die das mit dem Spitzensteuersatz einfach mal so übernommen haben, machen sich somit zur Nutte der Lobbyisten, die für ihre finanziell gut ausgestattete Klientel die Steuerlast senken wollen und für dieses Unterfangen die Unterstützung einer breiteren Gesellschaftsschicht gewinnen möchten. Aber warum das?
Die OECD hat erst kürzlich veröffentlicht, dass wir in Deutschland die zweithöchsten Steuern- und Abgabenlasten der OECD-Staaten haben. (Also quasi die Spitzenposition. Sorry, ich konnte nicht widerstehen.) Knapp die Hälfte des Einkommens geht somit bei durchschnittlichen Alleinverdienern für Steuern und Abgaben drauf.
Das große Problem sind aber für Normalverdiener gar nicht die Steuern, die in Deutschland nicht wirklich ungewöhnlich hoch sind, sondern die Beiträge zur Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung. Die sind deutlich höher als woanders und sorgen am ehesten dafür, dass vom Brutto so wenig Netto übrig bleibt.
Die Sozialversicherungsbeiträge sind üblicherweise prozentuale Anteile vom Bruttoeinkommen. Es gibt allerdings Beitragsbemessungsgrenzen, was heißt: Nur bis zu dieser Summe wird der entsprechende Beitrag berechnet. Wer mehr verdient, zahlt nicht mehr Versicherungsbeiträge als jemand, der genau auf dieser Grenze liegt.
Im Westen Deutschlands betragen die Beitragsbemessungsgrenzen für die Krankenversicherung und die Pflegeversicherung 76.200 Euro, für die Rentenversicherung aber 52.200 Euro (letzteres auch in Ostdeutschland). Heißt also: Wer wirklich viel verdient, für den nehmen die Sozialversicherungsbeiträge (wenn sie die denn überhaupt zahlen müssen) einen deutlich geringeren Anteil vom Gehalt weg als beim echten Normalverdiener. Für die wirklichen Gutverdiener sind die Steuern somit tatsächlich das größere Ärgernis.
Man sollte sich daher als Durschnittsverdiener nicht der Illusion hingeben, die Kämpfer gegen den Eigentlich-Nicht-Spitzensteuersatz hätten das Wohl des Normalverdieners im Sinn. Für den wäre es wesentlich zielführender, wenn sich Gutverdiener mehr an den Sozialversicherungen beteiligen würden und so diese Kosten für die anderen sinken oder wenigstens weniger stark steigen könnten.
Puh. So, das musste mal gesagt werden. Danke fürs Zuhören, und wenn ihr wollt, schickt eure Bekannten zu diesem Blogeintrag. Bis dann!
Nachtrag: Mir wurde erzählt, dass die Bezeichnung "Spitzensteuersatz" für diesen besagten Steuertarif historisch gewachsen wäre. Mag sein. Ändert nichts daran, dass er heutzutage so einfach einen falschen Sachverhalt vermittelt. Ich sehe jeden Journalisten, jeden Politiker, jeden Steuerfachmann und jeden Wirtschaftssprecher in der Pflicht, Wörter korrekt zu verwenden - spätestens ab jetzt.
Gast
Das mit der Deckelung der Sozialabgaben empfand ich schon immer als eines der Grundübel. Warum nimmt man ausgerechnet die Einkommen aus der Pflicht ihren normalen Beitrag zu leisten (wie alle anderen auch)? Bei der Krankenversicherung wird es ja noch abstruser, wer so richtig viel verdient braucht gar nicht in der gesetzlichen Versicherung bleiben, sondern kann sich privat versichern, oft mehr Leistungen bei weniger Geld.
Und selbst des Staates Diener, die Beamten, die werden auch nicht gesetzlich versichert. Warum das alles eigentlich nicht? Es würde für eine solidarische Gesellschaft viel mehr Sinn ergeben, wenn sich gerade die beteiligen, die viel haben. Brauchen bei den Sozialabgaben ja auch nicht mehr Prozente abgeben als alle anderen, aber doch wenigstens die paar Prozente könnten sie abgeben.
Da hat jemand gute Lobbyarbeit geleistet und leistet sie immer noch...