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Vergessene Jahreszeit

Der Weltklimagipfel in Kopenhagen ist zu Ende, und zur großen Überraschung von fast niemandem ging er aus wie das Hornberger Schießen. Das wundert mich überhaupt nicht, denn die meisten Leute können sich den Klimawandel gar nicht vorstellen. Verdammt, die sind schließlich schon mit den Jahreszeiten überfordert.

Deutschland liegt auf Breitengraden, in denen ein Vierjahreszeitenklima herrscht. In jedem Jahr haben wir Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Allein die Volkslieder, die sich mit den Jahreszeiten beschäftigen, könnten gute dreißig Jahre zur Folter von Gefangenen eingesetzt werden, ohne ein einziges Lied zu wiederholen. Und trotzdem kommt der Winter für geschätzte 80 Prozent der Bevölkerung jedes Jahr anscheinend wieder überraschend. Jede Menge Autofahrer schliddern mit Sommerreifen über den Asphalt und bauen dicke Unfälle, was besonders diejenigen freut, die zwar Winterreifen aufgezogen haben, aber von einem Sommerreifenterroristen von der Strecke geschossen werden. Viele Leute verscherbeln anscheinend auch in jedem Sommer ihre Winterjacken und beschweren sich dann über die kalten Temperaturen, die sie in ihren dünnen Hemdchen ertragen müssen. Dass gewisse Früchte im Winter nicht aus heimischer Produktion verfügbar sind, sorgt auch bei so manchen Konsumenten für Enttäuschung. Aber soll man den Menschen Vorwürfe machen, wenn sich milliardenschwere Konzerne vom Wetter genauso überfallen lassen?

In den Sechzigern warb die Deutsche Bundesbahn mal mit dem Slogan: „Alle reden vom Wetter. Wir nicht“, womit sie ausdrücken wollte, dass man bei Sturm und Schneetreiben beruhigt per Schiene zu seinem Reiseziel gelangen könnte. Nun haben offenbar aber alle aufgehört, über das Wetter zu reden, und die Bahn hat es dann einfach vergessen. Man reimte früher ja nicht umsonst: „Jeder Lump und Liederjan geht zu Post und Eisenbahn“; heutzutage findet man diese Lumpen auch noch vorzugsweise in den Vorständen, die Beschaffung und Wartung der Technik der Rendite unterordnen. Und nicht erst seit Kurzem bricht immer das helle Chaos aus, sobald Frau Holle zum ersten Mal ihre Bettwäsche aufs Fensterbrett wuchtet und kräftig ausschüttelt. Dabei ist die Lage auch ohne Winter nicht gerade rosig: Die Berliner S-Bahn hatte schon im Sommer Probleme mit den Bremsen, dann mit den Rädern, den Achsen … aber nein, nun hat man nach über 13 Jahren festgestellt, dass die Wagen der neuesten Baureihe auch nicht winterfest sind. Diese neueren Wagen haben diejenigen abgelöst, die seit 1927 in Berlin fuhren. Diese alten Recken mussten den Fahrbetrieb immerhin erst unterbrechen, als der Iwan in die Reichshauptstadt einmarschierte. Da hat man sich nicht von ein paar Schneeflocken und Eis aufhalten lassen, da mussten es schon Granaten und Gemetzel sein. Dass die Bahn bei den Werkstätten jede Menge Kahlschlag betrieben hat, um die Profite zu erhöhen, ist auch eher suboptimal für die S-Bahnen. Wer Kinder hat, kann aber seinem Nachwuchs nicht einmal guten Gewissens die Regionalbahnen als Alternative empfehlen, weil die Chancen gut stehen, dass die Leibesfrüchte aufgrund von PMS der Schaffnerin auf halber Strecke ausgesetzt werden und dann jämmerlich erfrieren müssen.

Und die Probleme bleiben nicht auf den Stadtverkehr beschränkt: Die ICE T, also immerhin die Flaggschiffe der Deutschen Bahn, funktionieren in der kalten Jahreszeit ebenfalls nicht nach Vorschrift. Noch schlimmer: Die Schwachstelle liegt in der Neigetechnik, die den Zügen ermöglicht, sich in die Kurven zu legen und so höhere Geschwindigkeiten zu fahren. Ein Teil der Neigetechnik basiert auf Rüstungstechnologie, genauer gesagt auf der Kanonenstabilisierung im Leopard-2-Panzer. Ich hoffe, die Wetterfühligkeit liegt nicht ausgerechnet an diesem Teil. Schließlich ist der Winter einer der Gründe, weswegen Opa es nicht nach Moskau schaffte; das sollte nach 70 Jahren doch immer noch eine Lehre sein, den Winter nicht zu unterschätzen.

Ein Trost für die Deutsche Bahn ist aber vielleicht, dass es bei den europäischen Kollegen auch nicht unbedingt besser aussieht. Der Zugverkehr durch den Eurotunnel wurde eingestellt, weil die Züge den französischen Winter nicht vertrugen und unter dem Ärmelkanal stecken blieben, nachdem sich die Feuchtigkeit in die Elektrik vorgearbeitet hatte. Aber da geht’s immerhin um die Franzosen und Engländer, da sollten wir schon aus Prinzip besser sein, um sie auslachen zu können. Wenn die schon die Kriege gewinnen, können wir wenigstens gegen das Wetter gewinnen.

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