Medien machen doof
Ich muss wieder einmal die Besucher von Klopfers Web lobpreisen. Nicht nur wegen ihres exzellenten Geschmacks, was Unterhaltung angeht, sondern wegen ihrer Kühnheit. Das Internet ist nämlich gefährlich, und jeder, der es wagt, seinen virtuellen Fuß über die digitale Schwelle zu setzen, muss ein eisenharter Hund sein oder auf seine Sicherheit keinen Wert legen. Stefanie zu Guttenberg hat erst letztens wieder gesagt, wie gefährlich das Internet ist, und als Ehefrau eines Ministerdarstellers (nee, der arbeitet nicht als Minister, der tut nur so) ist sie natürlich extrem kompetent. Für Politikergattinnen mit Aufmerksamkeitshurensyndrom (AHS) gibt es dafür bestimmt eigens Lehrgänge, verpflichtend zwischen Parteieintritt und Hirnabsaugung.
Am schlimmsten sind natürlich Kinder dran. Die werden ja in den Chats verprügelt, vergewaltigt, umgebracht … Keine Ahnung, wie viele Kinder im Chat schon verdurstet sind, aber die Zahlen gehen bestimmt in die Millionen. Für zu Guttenberg, von der Leyen und andere ist das Internet die größte Gefahr überhaupt, da muss man doch endlich etwas tun. Und deswegen hat Stefanie zu Guttenberg auf der Konferenz Digital – Life – Design einen Notfallschalter gefordert, mit dem Kinder einen Chat sofort verlassen können. Die Industrie hat das natürlich sofort umgesetzt, und zwar retroaktiv.
Notfallknopf sowohl in der Software ...
... als auch in der Hardware.
Laut der Studie „EU Kids Online“ sind 39 Prozent der europäischen Internetnutzer zwischen 9 und 16 Jahren bereits mit „Online-Risiken“ in Kontakt gekommen, also mit Cybermobbing, Pornografie, Datenmissbrauch etc. Ganze zwölf Prozent gaben an, schon negative Erfahrungen im Netz gemacht zu haben. Zwölf Prozent! Potz Fut, da muss man doch was tun!
Ich wette, wenn man Kinder fragt, ob sie schon negative Erfahrungen in der Schule gemacht haben, werden wesentlich mehr als zwölf Prozent diese Frage bejahen. Schlechte Noten, Schulproleten, ungerechte und unfähige Lehrer – und trotzdem kommt keiner auf die Schnapsidee, die Schulpflicht einzuschränken, damit der arme Nachwuchs keine bleibenden psychischen Schäden durch den Aufenthalt im Bildungssystem davonträgt. Ich wurde in der Schule gemobbt, und es war deswegen so eine Qual, weil ich mir das eben gefallen lassen musste und es nicht durch einen Mausklick beenden konnte. Im Netz hab ich Beleidigungen und Drohungen und sogar Mordankündigungen per Chat und Forum gekriegt, und das hat mich weniger tangiert, als auf dem Schulhof angerotzt zu werden. Die Angst vor der Übelkeit des Internets treibt seltsame Blüten. Kinder sollten im Chat nie ihren echten Namen und ihre Adresse angeben. Falls sie aber zum Beispiel einen Twilight-Blog betreiben, müssen sie genau diese Angaben im Impressum machen – dazu sind sie (wie alle anderen in Deutschland auch) laut Medienstaatsvertrag gesetzlich verpflichtet, falls die Seite öffentlich zugänglich ist und regelmäßig aktualisiert wird.
Und bei Erwachsenen sieht die Sache ähnlich aus. Die Angst vor Datenkraken wie Google und Facebook wird geschürt, unsere Bundesverbraucherschutzministerin legt sich lieber mit dem Internet an, als sich um Drückerkolonnen von Telefonfirmen zu kümmern, und jeder sollte möglichst wenig persönliche Daten im Netz offenbaren, weil da ja böser Identitätsdiebstahl betrieben werden könnte. Und gleichzeitig fordert das Bundeskanzleramt, dass man in Foren nur unter seinem Realnamen unterwegs sein solle, weil die Verwendung von Spitznamen unhöflich wäre – und zudem feige, weil der Bürger sich schließlich zu sich selbst bekennen sollte. Ist schließlich unvorstellbar, dass zum Beispiel eine junge Frau vielleicht vermeiden möchte, dass man sie über ihren Nutzernamen im SM-Forum als Grundschullehrerin identifizieren kann, weil dann wieder einige Eltern einen Empörungssturm lostreten würden, da sie Lehrern kein Privatleben zugestehen. Eventuell will jemand auch einfach nur, dass man auf die Inhalte achtet, die er in einem Forum schreibt, ohne dass sie als dummes Geschreibsel verurteilt werden, weil der Autor als Frau oder als Ausländer zu erkennen ist. Vielleicht will sich ein Mädchen bei Klopfers Web ganz ungezwungen an mich heranmachen und mir Ferkeleien schreiben, ohne dass die Gefahr besteht, von ihrem Freund erwischt zu werden. (Hey kommt, ihr wollt es doch. *hrrr*)
Aber klar, das Internet ist relativ neu, also wird es mit Skepsis betrachtet, und man projiziert fast alle schlimmen Befürchtungen, die in der Welt existieren, auf dieses neue Medium. Es ist voller Übeltäter, es ist wild, es ist menschenverachtend – und weil niemand die Informationen kontrolliert, macht es auch noch doof, weil es Unwahrheiten verbreitet. Dass es kaum Beweise dafür gibt, dass das Internet so eine furchtbare Gefahr für Leib, Vermögen und Intellekt ist, stört dabei offenbar nicht. Lieber fabuliert man vom rechtsfreien Raum und dass man doch nicht warten könne, bis man Langzeiterfahrungen gesammelt hat. Also wird gehetzt, reguliert, verboten – und den Unterschied zwischen böser Zensur in China und guter Beschränkung in Deutschland erklärt man mit dem dümmsten Zirkelschluss überhaupt: Eingriffe in die Informationsfreiheit sind in China böse, weil China böse ist, während Deutschland gut ist, also ist es bei uns kein Problem. Und warum ist China böse? Unter anderem, weil dort in die Informationsfreiheit eingegriffen wird. Wenn Unlogik knallen würde, müssten vielen Politikern die Köpfe explodieren. (Übrigens benutzt China die gleiche Ausrede wie die Deutschen: Die Kinder müssen doch geschützt werden!)
Beim Hetzen gegen das neue Medium macht auch das Fernsehen kräftig mit. Das entbehrt nicht einer gewissen Ironie, denn noch vor wenigen Jahrzehnten war das Fernsehen eben das neue Medium, auf das von allen Seiten eingeprügelt wurde. Fernsehen macht dumm, ist schlecht für das Sozialleben, weil die Leute lieber vor der Glotze hängen, statt miteinander was zu unternehmen, und vielleicht macht es die Menschen ja auch gewalttätig. Auch wenn es diese Vorurteile nicht wirklich abschütteln konnte, hat es sich etabliert, und heutige Fernsehkritik vermittelt oft den Eindruck, dass das Fernsehen früher ja viel intelligenter gewesen wäre und erst in den letzten Jahrzehnten daran arbeiten würde, seinen Ruf als Idiotenlaterne zu verdienen. Das ist natürlich Quatsch – früher war das Fernsehen auch oft schlecht, und wenn man sich zum Beispiel den ersten Fernsehauftritt von Hape Kerkeling, „Nonstop Nonsens“ oder eine Ausgabe vom „Blauen Bock“ anschaut, kann man kaum davon reden, dass das Fernsehen vor den ersten Privatsendern in Deutschland nur für intelligenten Humor offen gewesen wäre. Das Fernsehen hatte immer einen schlechten Ruf, und neben vielerlei Gegenbeweisen gab es eben auch genug Sendungen, die diesen Ruf zu bestätigen schienen.
Aber auch das Fernsehen war nicht das erste Medium, dem diese Ablehnung entgegengebracht wurde. Vorher kam der Hörfunk, und auch damals wurden kräftig Bedenken gewälzt. Die Hörer würden intellektuell und sozial verkümmern, weil sie schließlich nur noch am Radio hängen und nicht mehr lesen und es nicht mehr für nötig halten würden, zu richtigen Konzerten zu gehen und sich in der Gesellschaft zu bewegen. Auch dass man in der Frühzeit des Radios mit Kopfhörer vor der Kiste sitzen musste, um das Radioprogramm zu genießen, wurde als Indiz dafür genommen, dass das Radio seine Hörer von ihrer Umwelt isolieren würde. Und wie wir alle wissen, hatten die Kritiker recht. Keine zwanzig Jahre nach den ersten Radiosendern in Deutschland begann der Zweite Weltkrieg, und alles nur wegen des Radios. Gäbe es kein Radio, hätten die Deutschen keinen Angriff der Polen auf den Radiosender Gleiwitz inszenieren können, um einen Vorwand für den Einmarsch in Polen zu haben. Seht ihr? Alles nur die Schuld vom Radio allein. Teufelsmedium!
Doch auch das Radio ist nicht das erste Beispiel für den Reflex, neue Medien zu verteufeln. Das ist keine Erfindung des 20. Jahrhunderts – das Gleiche passierte im Mittelalter nach Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern und der Einführung des Papiers. Die Kritik kam damals übrigens nicht von der Kirche, denn die war größtenteils begeistert davon, dass man für eine einzige Bibel keine große Rinderherde mehr schlachten musste, um einen einsamen Schreiber monatelang mit Pergament versorgen zu können. Die Kritiker waren die Schreiber selbst, die die preiswerte Konkurrenz fürchteten. Und was hatten sie an der billigen Buchherstellung zu kritisieren? Neben der Qualität und der Haltbarkeit der frühen gedruckten Bücher beschäftigte sie auch die Trivialisierung des Wissens – da man beim Abschreiben eines Textes den Text besser kennenlernt, hätten die Abschreiber einen viel besseren Durchblick, während Drucker versoffene Taugenichtse wären, die mit Druckfehlern dann auch noch die Texte im Sinn so verfälschen würden, dass die Leser vom christlichen Pfad der Tugend abgebracht werden könnten. Klar, kennt man ja. Es soll „Du sollst nicht stehlen“ gedruckt werden, und am Ende steht „Ficken, Saufen, tralala!“ da. Passiert ständig. Eigentlich sei es aber sowieso nicht möglich, dass man durch das Lesen gedruckter Texte tatsächlich Informationen nachhaltig aufnehmen könne. Kurz gesagt: Gedruckte Bücher machen doof.
Ja, das gleiche Argument wie bei den anderen Medien wird uns schon seit über einem halben Jahrtausend um die Ohren geschlagen, immer wenn eine neue Art der Informationsverbreitung die Bühne betritt. Und schon damals hatte man eine einfache Lösung: Schreiber forderten im 15. Jahrhundert in einer ganzen Reihe von Städten, dass man Druckereien schließen und das Druckerhandwerk verbieten solle. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die Presseverlage heutzutage ebenfalls versuchen, ihre neue Konkurrenz plattzumachen – nur heute eben mit der Forderung nach einem Leistungsschutzrecht, bei dem jeder zahlen soll, der Pressemeldungen auch nur kurz im Internet zusammenfasst oder seinen Kollegen am Arbeitsplatz davon erzählt.
Wenn jedes Medium uns so dumm machen würde wie befürchtet, müsste man wohl extrapolieren, dass der Mensch den Höhepunkt seiner intellektuellen Leistungsfähigkeit erreicht hat, kurz bevor er von den Bäumen stieg und eine Lautkommunikation entwickelte, die über ein paar Grunzlaute hinausging. Ab da muss er ständig umso dümmer geworden sein, je mehr Möglichkeiten er hatte, seine Ideen der Öffentlichkeit zu präsentieren. Irgendwo steckt in diesem Gedankengang sicher auch noch eine Moral. Leider bin ich inzwischen wohl zu blöd, sie zu finden.