Tugendterror aus dem Nichts
Nuff! Ich grüße das Volk.
Manche Menschen scheinen nur dafür zu leben, andere verbal von der Seite anzupupen. Nichtsahnend sagt oder schreibt man etwas, mit dem man andere unterhalten oder informieren möchte, und schon kommt irgendein Arschloch wie Zieten aus dem Busch und nutzt schamlos aus, dass wir uns heutzutage einigermaßen bemühen, anderen mit Rücksicht zu begegnen.
Um zu erklären, warum ich gerade jetzt darüber schreibe, muss ich etwas ausholen. Es gibt einen recht bekannten Programmierer namens Robert Martin alias Uncle Bob. Als „agiles Projektmanagement“ in der Softwareentwicklung modern wurde (kurz gesagt: eine Methode, bei der ein Projekt durch sich immer wiederholende Zyklen von Umsetzung und Feedback vorangebracht werden soll), fiel ihm auf, dass dies wenig mit Programmierung und mehr mit Management zu tun hat, also formulierte er sogenannte „Clean Code“-Regeln, mit denen die agile Softwareentwicklung durch besseres Programmieren unterstützt werden sollte. Das nannte er dann „Software Craftsmanship“ (also Software-Handwerkskunst). Diese Clean-Code-Regeln erfahren durchaus Wertschätzung in der Branche.
Dummerweise wird Uncle Bob auch gehasst, und das weniger aus fachlichen Gründen. Zunächst halten ihn viele für einen Sexisten. Er beschrieb in einer Rede die späten 70er Jahre und dass die Programmiersprache C „was für echte Männer“ gewesen sei. Die Frage „Und die Frauen?“ beantwortete er flapsig mit „Die waren damals nicht erlaubt.“ Er hat sich dafür entschuldigt (auch wenn seine Antwort sicherlich den damaligen Zeitgeist einfing), aber das zählt natürlich nicht. Außerdem kritisierte man ihn dafür, dass die Bezeichnung „Software Craftsmanship“ nicht inklusiv genug und damit strukturelle Unterdrückung wäre, worauf er antwortete, dass das ein kleinlicher und ignoranter Gebrauch der englischen Sprache wäre.
Außerdem wirft man ihm vor, ein Rassist zu sein, weil er auf Twitter sagte, dass die Polizei nicht das Problem wäre und das Streichen von Polizeibudgets Hunderte oder Tausende Leben riskieren würde. Das kam bei BLM-Sympathisanten natürlich extrem schlecht an – obwohl selbst viele Schwarze seine Meinung teilten und der extreme Anstieg der Mordraten in fast allen großen amerikanischen Städten nach dem Tod von George Floyd und der daraus resultierenden Zurückhaltung der Polizisten seine Befürchtung voll und ganz bestätigten.
Soweit also klar: Uncle Bob hat ein einflussreiches Buch über Softwareentwicklung geschrieben, aber gilt als Schmuddelkind. Vor Kurzem hat dann Kovarex, der Chefentwickler des Spiels "Factorio", die Clean-Code-Regeln von Uncle Bob empfohlen. Und prompt sprang wieder ein Wichtigtuer aus dem Versteck und schwafelte Kovarex damit zu, was für ein furchtbar schlimmer Mensch Uncle Bob wäre und man doch besser darauf verzichten sollte, ihn weiter zu promoten, damit nicht noch mehr Menschen von ihm verletzt würden. Kovarex reagierte darauf mit erfrischender Direktheit und empfahl dem Wichtigtuer, er solle sich seine Cancel Culture sonstwohin stecken. Das gab natürlich wieder einen Aufschrei auf Twitter und bei Reddit, vielen wurde ganz blümerant: Wie konnte Kovarex nur so unfreundlich sein?!
Ich war genervt (und fasste deswegen den Entschluss, diesen Text zu schreiben). Kovarex hat richtig reagiert: Es ist schon mehr als unhöflich, einfach ungefragt eine total sachfremde Charakterschelte hinzuscheißen, weil man sich gerne als Hüter der Moral und Streiter für die Schneeflöckchen darstellen will, um seinen Narzissmus anzufüttern. Ihm dann einfach mal knallhart zu sagen, dass man den Manipulationsversuch erkannt hat und nichts davon hält, ist leider eine viel zu seltene Reaktion. (Kovarex hatte später erklärt, dass er zwar seine Wortwahl bereut, aber inhaltlich zu dem steht, was er sagte, zumal er aus seiner Erfahrung im Ostblock durchaus sehr empfindliche Antennen dafür hat, wenn jemand durch moralische Ächtung sowohl beruflich als auch privat kaltgestellt werden soll, um eine bestimmte Agenda voranzutreiben.)
Anderes Beispiel: Liv Albert ist eine Autorin, die einen Podcast über Mythen und Legenden veröffentlicht. Im Titel einer Episode über die antike griechische Dichterin Sappho wird diese als „Poetess of Lesbos“ bezeichnet, denn sie lebte auf der besagten Insel. Kürzlich bekam Liv dann eine Nachricht, in der sie ein Wichtigtuer der Wokeness-Brigade darüber informierte, dass „Lesbos“ eine beleidigende Bezeichnung wäre, die nur Lesben verwenden dürften. Manchen Menschen wird nicht oft genug gesagt, dass sie dumm sind, und dann kommt so etwas heraus.
Umso frustrierender ist es, wenn Leute devot einknicken und öffentlich Buße tun, sobald Wichtigmacher sich als Moralhüter aufspielen. Im Buch „The Golden Girl“ von Elin Hilderbrand unterhalten sich zwei Teenager (Savannah und Vivi), und Savannah schlägt Vivi vor, dass diese sich auf dem Dachboden von Savannahs Haus (ohne Wissen der Eltern) verstecken könnte. Vivi sagt daraufhin: „Wie Anne Frank?“ Und dann lachen beide darüber. Prompt gab’s einen Aufschrei und Antisemitismusvorwürfe. Schließlich bat Hilderbrand um Entschuldigung und kündigte an, dass diese Stelle aus dem Buch getilgt werde. Dabei ist diese Bemerkung durchaus eine glaubwürdige Reaktion eines Teenagers – und nichts daran drückt eine antisemitische Haltung der Autorin oder eine Verharmlosung des Holocausts durch sie aus.
Im Roman „Red, White & Royal Blue“ von Casey McQuiston sagt der US-Präsident: “Mein UN-Botschafter hat Scheiße gebaut und was Idiotisches über Israel gesagt, und jetzt muss ich Netanjahu anrufen und mich persönlich entschuldigen.“ Laut einem Twitter-Nutzer normalisiere diese Stelle „die Genozide und Kriegsverbrechen“ Israels. Ein anderer sah darin eine „Normalisierung der Besetzung Palästinas“. Die Autorin kündigte dann an, dass diese Zeile in zukünftigen Auflagen geändert werde.
Das ist einfach bescheuert. Das Zitat eines fiktionalen Buchcharakters komplett aus dem Zusammenhang zu reißen und aus zwei Zeilen eine Botschaft oder die Geisteshaltung des Autors abzuleiten, dafür muss man a) schon besonders doof und b) dennoch von seiner eigenen Intelligenz überaus überzeugt sein. Ich wundere mich sowieso, wie selektiv man seine moralischen Bedenken aufpumpen kann. Ein Autor kann in seinem Buch jede Menge Leute ermorden lassen, aber wehe, ein Charakter lässt mal einen dummen Spruch ab. Da muss es natürlich sofort einen heftigen Shitstorm geben – auch wenn in der realen Welt niemandem damit geholfen ist.
Selbst Kindheitserinnerungen können nun eine vorgetäuschte Empörung provozieren, wie man im Frühling in Berlin feststellen konnte. Die grüne Spitzenkandidatin für das Oberbürgermeisteramt, Bettina Jarasch, erzählte bei einem Gespräch auf dem Landesparteitag ihrer Partei, dass sie als Kind gerne „Indianerhäuptling“ geworden wäre. Ging natürlich gar nicht. Prompt beschwerten sich einige Wichtigtuer darüber, wie diskriminierend dieser Begriff sei – nicht etwa wegen der maskulinen Form „Häuptling“, sondern weil „Indianer“ voll diskriminierend gegenüber den amerikanischen Ureinwohnern wäre. Die Politikerin bat in einer Rede um Entschuldigung und erklärte ihre Äußerungen als „unreflektierte Kindheitserinnerungen“.
Die Entrüstung über diese Äußerung und der darauffolgende Kotau hat natürlich viel Spott nach sich gezogen. Nichts an der Bezeichnung ist abwertend, sowieso würde niemand einem Menschen abnehmen, sich als Kind gewünscht zu haben, „VorsitzendX einer Gemeinschaft der amerikanischen Ureinwohner*Innen“ zu sein, und die einzigen amerikanischen Ureinwohner, die sich irgendeinen Dreck darum scheren, wie sie von einer Lokalpolitikerin am anderen Ende der Welt genannt werden, haben so wenig eigene Probleme, dass sie eher mal ihre Privilegien checken sollten. Sowieso scheint’s mit der Ablehnung des Begriffes gar nicht so weit her zu sein: In den USA gibt’s als Interessenvertretungen zum Beispiel den „National Congress of American Indians“ und den „National Indian Youth Council“, außerdem das „American Indian Movement“, das auch die Gründung des „International Indian Treaty Council“ vorantrieb.
Lange Rede, kurzer Sinn: Diese geheuchelte Rücksichtnahme auf angeblich angegriffene oder betroffene Minderheiten durch irgendwelche Aufmerksamkeitshuren muss aufhören, indem man ihnen klarmacht, dass man ihre Strategie durchschaut hat: sich selbst moralisch über andere zu erheben, weil sie sich Ansehen und Einfluss erhoffen und ihnen heimlich einer abgeht, wenn sie wieder jemanden dazu bringen, sich demütig in den Staub zu werfen und um Vergebung zu betteln. Erst dann kann diese Diktatur beendet werden, jawoll!
Andere Sache: Ich habe mir in einer Kolumne ein paar Gedanken über die Vermögensteuer gemacht, die mal wieder gefordert wurde. (Mir ist übrigens klar, dass es rein formal schon eine Vermögensteuer gibt in Deutschland, die aber nicht erhoben wird; das ist so wie bei der Wehrpflicht, die formal noch existiert, aber ausgesetzt ist und wohl auch nicht mehr wiederkommt.)
Weitere Sache: Vor einiger Zeit sind drei Exemplare von "Bob & Linda" bei einem kleinen Fensterputzunfall nass geworden. Eins ist fast unversehrt (man merkt bloß, dass das Buch an einer Ecke dicker ist, als es sein sollte), die anderen beiden hat es schlimmer erwischt. Lesbar sind aber alle noch.
Jetzt wäre es zu schade, sie wegzuwerfen, also biete ich sie ab sofort zum halben Preis an. Der Besteller, von dem am schnellsten Geld bei mir ankommt, kriegt dann das besterhaltene Exemplar. Viel Glück!
Nachtrag: Das besterhaltene Buch ist jetzt weg.
Ich glaube, das war's dann erst einmal für diesen Eintrag. Tut mir auch leid, dass er so lange gebraucht hat, ich habe mich noch an meine neue Sehhilfe gewöhnen und dann eine "meiner" Mangaserien zum Abschluss bringen müssen. Wir sehen uns dann beim nächsten Eintrag!
Premiummitglied
Volle Zustimmung meinerseits. Ich kannte die Beispiele teilweise, und fand sie absurd.
Manchmal wünsche ich mir, dass sich irgendwie rausstellt, dass Tim Berners-Lee ein pädophiler Rassist war. Um ihn und seine Erfindungen nicht weiter zu hypen dürften die Vollidioten das Internet nicht mehr nutzen. Wenn diese Trottel nur noch offline nerven und ihnen das Sprachrohr fehlt, werden sie deutlich weniger nervig sein.
@Tim Berners-Lee: Ich weiß, es ist viel verlangt, aber kannst du dich für die Allgemeinheit opfern und in einem Interview sagen, du seist ein pädophiler, rassistischer Antisemit?